Prolog
Während ich die Radbox schließe und meine Packliste ein letztes Mal prüfe, kehrt bei mir die Erinnerung zurück: Nordkap 2023, das war ein verrückter Sommer. Ich bin allein durch Norwegen gefahren, nachdem ich die Anmeldung zur NorthCape4000 verpasst hatte, da ich trotzdem unbedingt diese Strecke fahren wollte. Regen, Sturmtief Hans, ein gebrochenes Schaltwerk, feuchtes Schlafzeug – solch krasse Erlebnisse und die Einsamkeit blieben mir damals als einziger Begleiter. Es zählte für mich jedoch nur das Ziel: den Rand Europas zu erreichen. Nun ist alles anders: nicht Einsamkeit, sondern die Vorfreude auf ein gemeinsames Abenteuer, das ich mit vielen weiteren Teilnehmern erleben werde. Ich bin Teil des diesjährigen Northcape4000.

Der 35-jährige Francesco lebt in Udine, im Nordosten Italiens, umgeben von Bergen und in der Nähe von Österreich und Slowenien. Beruflich arbeitet er als Projektmanager in einem Outdoor-Unternehmen, seine Leidenschaft gilt jedoch dem Gravelbike und dem Bikepacking. Seit 2017 unternimmt er regelmäßig Reisen auf zwei Rädern quer durch Italien und Nordeuropa – nicht aus sportlichem Ehrgeiz, sondern aus Neugier und Freude am Entdecken. Für ihn bedeutet Bikepacking Freiheit, Selbstständigkeit und die Möglichkeit, Landschaften und Menschen im eigenen Tempo zu erleben.
Northcape4000: Der Wahnsinn in Zahlen
Die NorthCape4000 ist offiziell kein Rennen, auch wenn die nackten Zahlen anderes vermuten lassen: 4000 Kilometer durch acht Länder bis zum nördlichsten Punkt des Kontinents. Ein "kein Rennen"-Event, das Wettbewerb in Miteinander verwandelt. Dieses Jahr erstmals mit Zwischenstart in Berlin: 3000 Kilometer, perfekt für mein Urlaubsfenster.
Die Rechnung bleibt dennoch einschüchternd: 200 Kilometer am Tag, fünfzehnmal hintereinander. Zerlegt man es, wird es fassbarer – acht Stunden mit 25 km/h oder einfach ein Pedaltritt nach dem anderen, bis man am Ende Europas steht und sich fragt, wie man so viel Glück haben konnte.
Die Wahl des richtigen Rads

Francescos Bike für das Northcape4000: Das Bombtrack Tempest mit solider Shimano 105-Schaltung
Mein Rad für das Abenteuer ist ein Bombtrack Tempest: 10,2 Kilo Stahl, Shimano 105, keine Leichtbauorgie, sondern ein verlässlicher Begleiter. Panaracer GravelKing Semi-Slicks für den rauen skandinavischen Asphalt, Rahmentaschen von Miss Grape mit dem Nötigsten – Kleidung, Werkzeug, Biwi. Die Gewichtsverteilung folgt den Grundprinzipien – schwere Dinge zentralisiert, alles andere so ausbalanciert, dass die Fahreigenschaften erhalten bleiben. Nach wenigen Tagen verschwinden technische Daten ohnehin, dann zählt nur, ob das Rad ein Teil von mir wird.
Elektrisierender Aufbruch aus Berlin

Neu war der "Intermediate Start", der in Berlin vorm Reichstag startete und das Northcape4000 auf rund 3000 km "reduzierte".
Am Brandenburger Tor versammeln sich 150 Fahrer. Keine Hektik, nur elektrisierte Vorfreude. Die ersten 240 Kilometer bis zur polnischen Fähre fordern Disziplin – verpassen will ich sie nicht. Mit nur wenigen Minuten Vorsprung den Hafen zu erreichen, fühlt sich für mich an wie die erste bestandene Prüfung. Ich sehe, wie Dutzende Räder in den Schiffsbauch geladen werden, und begreife das wahre Ausmaß dieser Reise. So viele unterschiedliche Räder und Set-ups, alle mit einem Ziel. Auf der Nachtfahrt lerne ich Maria, eine spanische Architektin, bei ihrem dritten Versuch dieses Events, und Thomas, einen deutschen Ingenieur, der sein Gravelbike speziell für diese Herausforderung umgebaut hat, kennen. Unterschiedliche Menschen, gemeinsam auf dem Weg zum Nordcap.
Disziplin in Schweden

15 Tage für 3000 Kilometer: unendliche Eindrücke von Landschaft, Kultur und Erlebnissen.
Schweden lehrt mich, Distanz neu zu denken. 200 Kilometer sind plötzlich keine Zahl mehr, sondern zehn Stunden Bewegung. Die Ernährung wird dabei zum System: Nüsse, Riegel, Elektrolyte. Morgens Kohlenhydrate, abends Eiweiß, stetige Flüssigkeitszufuhr. Alles in einem Dialog zwischen Ehrgeiz und Vernunft.
Schweden belohnt mich enorm: Wälder weichen Seen, die Mitternachtssonne verwandelt Nächte in endlose Goldene Stunden. Rehe am Straßenrand, neugierige Radfahrer, deren Augen groß werden, wenn sie "Nordkap" hören. Und immer wieder Fahrer, die kommen und gehen. Keine Konkurrenz, sondern Gleichgesinnte mit demselben absurden Vorhaben.
Grinsend im Regen
Vor dem norwegischen Magerøya-Tunnel, sechs Kilometer unter dem Meer, bemerke ich mein fehlendes Rücklicht. Panik – bis Jan, ein Niederländer, mir wortlos sein Ersatzlicht reicht. Freundlichkeit wie diese begegnen mir immer wieder: improvisierte Versorgungsstationen, Apfelkisten am Wegesrand, Fremde, die uns anfeuern. Auf dem Rad, verletzlich und langsam, sieht man die Welt, wie sie wirklich ist: hilfsbereit.

Wenn ein mieses Wetter einem nur ein Lächeln abringen kann.
Auch das schlechte Wetter bietet Glücksmomente. Vor Karasjok schlägt arktischer Regen in Wellen ein, doch die abschließende 15-Prozent-Abfahrt von Finnland nach Norwegen lässt mich im Dauerregen grinsen – mein Bombtrack hält stoisch sicher die Linie und innerlich spüre ich: Ich bin gerade genau am richtigen Ort.
Am Rande von allem

Vorsicht vor wilden Tieren. Das berühmte Verkehrsschild, das in Skandinavien vor den majestätischen Elchen warnt.
Hinter Rovaniemi in Finnland wandelt sich die Landschaft. Straßen dehnen sich endlos geradeaus durch Terrain aus einer anderen Welt. Die Wälder verschwinden, die Tundra übernimmt. Rentiere kreuzen gelassen die Straße, Fjorde brechen in bizarrer Schönheit hervor. Der Arktische Ozean kündigt sich durch seinen Geruch an, lange bevor er sichtbar ist. Fahrradreisen ist Staunen in optimaler Geschwindigkeit. Schnell genug, um Kontinente zu durchqueren, langsam genug, um alles aufzusaugen.

Grandiose Landschaft. Wie geschaffen für ein episches Bikepacking-Event.
Am Ziel der Träume
Am Nordkap-Globus zu stehen, nach fünfzehn Tagen und 3000 Kilometern, ist mehr als eine physische Befriedigung. Es ist die Erkenntnis: Gewöhnliche Menschen erreichen Außergewöhnliches, wenn sie einfach nicht aufhören zu pedalieren.
Zwischen Dutzenden Mitfahrern stehend, alle gleichermaßen erschöpft und euphorisch unter dem berühmten Globus, begreife ich: Dieses temporäre Kollektiv wird mir ewig im Gedächtnis bleiben. Wir haben Geschichten, Wetter und Strapazen miteinander geteilt.

Geschafft! Angekommen! Nicht am Ende der Welt, aber am Rande Europas: am Nordkap.
Mein Rad lief fehlerfrei, doch wichtiger ist das, was bei mir hängen bleibt: Die Welt hält Schönheit und leere Straßen bereit, die nur warten, entdeckt zu werden. Alles, was es braucht, ist der eigene Entschluss, in die Pedale zu treten.