Wenn es um das Thema E-Rennräder geht, ist der Aufschrei schnell groß. E-Unterstützung an einem als waschechtes Sportgerät konzipierten Fahrrad ist oft verpönt. "Das hat mit dem Sinn, sich mit anderen oder mit sich selbst zu messen, nichts mehr zu tun", ist eines der Argumente gegen ein E-Rennrad. Die E-Unterstützung wird als eine Art von Schummeln empfunden. Einher geht die Aufzählung von Contra-Argumenten mit der Ansicht, dass ein unverfälschtes Fahrerlebnis nur mit einem muskelbetriebenen Fahrrad möglich ist.
Doch was, wenn es ein E-Rennrad gibt, das sich vehement gegen diese Argumente wehrt? Es zwar einen Motor hat, der aber bei Bedarf dezent und dennoch kräftig genug unterstützen kann? Obendrein ein sehr realistisches Fahrgefühl bietet, selbst ohne Zutun des Motors? Und sich außerdem fährt wie ein reinrassiges Rennrad? Nicht möglich? Wir haben uns das neue Giant Defy Advanced E+ Elite 1 mit alltagstauglicher Ausstattung geschnappt und wollten herausfinden, wie der Spagat zwischen beiden Welten gelingen kann.
Kurz & knapp
- Modell: Giant Defy Advanced E+ Elite 1
- Rahmenmaterial: Carbon
- Größen: S/ M/ ML/ L/ XL
- Gewicht: 13,8 kg (Testbike, Größe ML, nachgewogen)
- Schaltung: Sram Force AXS, Praxis Carbon, Sram X-SYNC 46/33T Kettenblätter, Sram Force 10-33T-Kassette
- Reifenfreiheit: bis 38 mm, geliefert mit 32 mm Cadex Classic-Reifen
- Motor: SyncDrive Move Plus, Nabenmotor, 75 Nm, 400 Wh-Akku, 5 Unterstützungsmodi
- Sonderausstattung/ Besonderheiten: Schutzbleche, Front-/Rücklicht, Modi lassen sich in App anpassen
- Preis: Test-Rad 8669,80 Euro (mit optionaler Ausstattung)
Am Testbike des Giant Defy Advanced E+ Elite 1 fallen eher das alltagstaugliche Equipment wie Schutzbleche und das Front- sowie Rücklicht auf als der Motor. Selbst das Unterrohr, in dem sich der 400 Wh-Akku versteckt, wirkt nicht klobig und ist elegant gelöst. Den 30 Nm starken SyncDrive Move Plus-Heckmotor, erkennt man erst beim näheren Hinschauen.
Die Unterschiede zu dem Bio-Endurance-Renner sind anhand der breiteren, speziell für das E-Bike neuentwickelten Rohrformen sichtbar. Am Ende offenbart die dezent im Oberrohr platzierte "RideControl Go"-Bedieneinheit, dass es sich um einen E-Flitzer handelt.
Das Defy E+ in der Praxis
Die Sitzposition auf dem Carbon-Rahmen ist sportlich und leicht gestreckt (Stack to Reach 1,5 bei Rahmengröße ML), identisch mit der "Bio"-Version des Defy (Defy Advanced) in derselben Größe. Ermüdungserscheinungen? Konnten wir in unseren Testfahrten nicht feststellen.
Schick ist das aufgeräumte Cockpit und der sehr griffige Carbon-Lenker, der auch im Obergriff eine entspannte Handauflage auf längeren Touren bietet. Giant montiert bereits eine Halterung für ein GPS-Navi an der Lenkerklemmung, mit GoPro-Aufnahme an der die STVZO-konformen Recon EHL100-Frontleuchte befestigt ist. Dessen sichtbares Kabel verläuft unter dem Vorbau ins Steuerrohr. Die LED-Lampe wird vom Akku gespeist.

Sattelstütze: die Aussparung an der Sattelstütze bedeutet mehr Flex und dadurch mehr Komfort. Giant gibt an, dass sie bis zu 12 mm flexen kann.
Die D-Fuse-Sattelstütze mit Sattel bietet ausgewogenen Komfort, die Aussparung in der Stütze erzeugt laut Giant Flex bis zu zwölf Millimeter. Mit den tief angesetzten Sitzstreben will Giant für sportlich-komfortable Fahreigenschaften sorgen. 32 mm breite Cadex Classic-Reifen, tubeless wohlgemerkt, auf speziellen E-Bike-Laufrädern (Giant SLR 1 Carbon) passen bei dem Renner ins Konzept. Sie sind fein profiliert, bieten jedoch keinen zusätzlichen Grip bei starkem Bremsen auf feuchten Straßen. Aufgrund der Hookless-Felgen ("hookless": fehlender Haken an der Innenwand) ist die Reifenwahl eingeschränkt, da nur speziell freigegebene Tubeless-Reifen verwendet werden können. Prima: Der Rahmen kann bis zu 38 mm breite Pneus aufnehmen, was den Einsatzzweck (und den Komfort) deutlich erhöhen kann. Selbst auf unseren Testfahrten, mit 100+ Kilometern, empfanden wir das "Sattel-Erlebnis" als sehr angenehm.
Schaltung
In der wunderschönen Hügellandschaft zwischen Wuppertal und Velbert, mit einem ständigen bergauf und bergab, lässt die bewährte Sram Force AXS mit 10-33er Kassette nichts anbrennen. Als Kurbel montiert Giant eine 2-fach-Praxis Works mit einer Übersetzung von 46/33T.

Das Herz des Motors schlägt in der Hinterradnabe und ist zunächst kaum zu erkennen. 30 Nm bringt er mit, das entspricht in etwa 75 Nm eines Mittelmotors. Durch die Giant Smart Assist-Technologie arbeitet der Motor sehr homogen, abrupte Leistungsschwankungen gibt es nicht. Die Übergänge sind angenehm weich, das Fahrgefühl beeindruckend nah an einem "normalen" Rennrad. Schade: Das leicht mahlende Motorengeräusch ist nicht für jeden Fahrer und den Bike-Buddy nebenan ein echter Hörgenuss.
Das Herzstück: Der SyncDrive Move Plus-Motor
Herzstück des E-Renners ist der Motor. Giant verbaut hier den laut Hersteller nur 1,7 kg schweren neuen SyncDrive Move Plus-Motor. Der Hinterradmotor leistet 30 Nm, was in etwa 75 Nm bei einem Mittelmotor entspricht. Dazu musst du wissen: Der Unterschied im Drehmoment zwischen einem Hinterradmotor und einem Mittelmotor bei E-Bikes liegt vor allem in der Art und Weise, wie die Kraft auf das Rad übertragen wird. Entweder direkt auf die Straße oder direkt auf die Kette.

Marc Kessing, Team Leader Marketing Giant Deutschland
Wir waren uns unsicher, wie ein Endurance E-Rennrad ankommen würde – doch die Resonanz auf das neue Defy Advanced E+ hat uns positiv überrascht: Ein stimmiges Konzept aus schlanker Linienführung, großem Akku, kraftvollem Antrieb, einfacher Hinterradmontage und geringem Gesamtgewicht hat nicht nur überzeugt, sondern unsere Erwartungen übertroffen.
Knackige Anstiege im zweistelligen Bereich liegen dem Hinterradmotor naturgemäß weniger. Im hügeligen Gelände bewies er jedoch sein Können, das natürliche Fahrgefühl blieb weitestgehend erhalten. Der Motor dosiert sanft, ohne abrupt zuzuschalten, und entfaltet seine Kraft erst bei höheren Trittfrequenzen, wie sie auch bei einem "Bio"-Renner üblich sind. Die "Smart Assist Technology" von Giant misst kontinuierlich Werte wie Pedalkraft und Neigungswinkel und sorgt so für ein harmonisches Fahrverhalten. Das merkt man auch, wenn der Motor bei 25 km/h abriegeln muss. Oder besser gesagt: Man merkt nichts, so sanft ist der Übergang.
In der Giant-eigenen RideControl-App lassen sich die Unterstützungsmodi einfach mithilfe eines Schiebereglers weiter an individuelle Bedürfnisse anpassen. Das finden wir gut, denn in der Werkseinstellung war der Unterschied gerade in den ersten beiden Stufen Eco und Tour unseres Erachtens sehr gering. Prima gelöst: Mit den Sram Blips, die unter dem Oberlenker verborgen sind, können die Modi einfach gewechselt werden, ohne die Bedieneinheit am Oberrohr zu nutzen. So bleiben die Hände sicher am Lenker.
Richtig leise ist der Nabenmotor jedoch nicht und besitzt noch Verbesserungspotenzial. Gerade bei höheren Drehzahlen macht der Motor mahlende oder auch als schleifend empfundene Geräusche, die das Gesamterlebnis trüben.

Das ist alles: kein Stress mit dem Ausbau des Hinterrads, weil der Motor in der Hinterradnabe steckt. Es gibt keine Kabel, die man abstecken muss und keine Schrauben, die man lösen muss. Ganz einfach die Steckachse herausdrehen und Hinterrad entnehmen. So verlieren mögliche Reifenpannen komplett ihren Schrecken.
Einen weiteren dicken Pluspunkt gibt es beim Ausbau des Hinterrads. Kein Stecker, den man ziehen, keine Schraube, die man lösen muss. Einfach die Steckachse herausdrehen und schwups, ist das Rad ausgebaut. Prima gelöst.
Fest verbaut und nur für Service-Arbeiten zu demontieren: Der 400-Wh-Akku soll laut Giant eine Reichweite von rund 100 Kilometern ermöglichen. Mit einem Range-Extender (200 Wh) lässt sich die Reichweite noch weiter steigern. Wer die Motorunterstützung nur teilweise nutzt, kann problemlos lange Tagestouren unternehmen. Die Reichweite hängt jedoch von vielen Faktoren ab, wie Gelände, Fahrstil, Modi und dem eigenen Gewicht.

Nichts zu beanstanden gibt es an der Qualität und der Verarbeitung des Giant. Die Auswahl der Komponenten empfinden wir als sehr stimmig und passend zum Konzept des E-Rennrads.
On top: die Alltagsausstattung
Ausgerüstet mit Schutzblech und Licht ist die Trainingsrunde auch bei schlechtem Wetter oder in der Dämmerung problemlos möglich. Das vordere Schutzblech könnte generell zwar etwas länger sein, aber der meiste Modder von unten wird abgehalten. Das lange, dezent designte hintere Schutzblech ergänzt die schlanke Silhouette des Rads.
Das 410-Lumen-Frontlicht leuchtet den Bereich vor dem Rad ausreichend hell aus, streut aber nur wenig in die Breite. Dunkelheit ist kein Problem, wenn die Trainingsrunde länger dauert. Klasse gelöst: das Rücklicht, das in der Abdeckung der Sattelstützenklemmung integriert ist. Das ist nicht nur ein Design-Clou, sondern es ist hell und strahlt auch zur Seite ab. Dadurch wird das Giant Defy Advanced E+ Elite 1 auch für Pendler interessant. Ein Gepäckträger für die Sattelstütze ist optional erhältlich.
So fährt sich das Giant Defy Advanced E+ Elite 1 ohne Motorunterstützung
Kurz gesagt: Wir waren überrascht, wie nah sich das Giant Defy Advanced E+ Elite 1 an einem "normalen" Rennrad orientiert und vor allem fahren lässt. Beim Start ist das Gewicht des Rads und des Motors am Heck spürbar, aber sobald das Rad rollt, ist das Fahrverhalten absolut harmonisch. In der Ebene einen 30er-Schnitt fahren? Kein Problem. Auch Anstiege lassen sich überraschend gut ohne Motorunterstützung bewältigen. Klar, im Wiegetritt macht sich das Gewicht wieder leicht bemerkbar, wenn das Rad von links nach rechts und umgekehrt gewuchtet wird, aber das Rad überzeugt dennoch durch sein sehr natürliches Fahrverhalten.
Auf einer Testrunde mit 120 km und 900 Hm rollten wir komplett ohne Motorunterstützung. Ergebnis: anerkennendes Kopfnicken. Stellt sich die Frage nach der Zielgruppe. So würden wir diesen E-Renner bei einer älteren Kundschaft sehen, die nach wie vor gerne lange Strecken fährt, die Leistungsfähigkeit aber altersbedingt nachlässt. Auch, wer gesundheitliche Einschränkungen hat, wird mit diesem Rad seinem Hobby gewiss zum großen Teil weiterfrönen können. Das Gleiche gilt für Wiedereinsteiger oder auch bei Pärchen oder Gruppen mit Leistungsunterschieden. Da kann das Giant Defy+ sicherlich einen guten Vermittler zwischen beiden Welten darstellen.
Unser Fazit
Das Giant Defy Advanced E+ Elite 1 überrascht uns auf ganzer Linie. Dabei sticht klar das sehr natürliche Fahrverhalten heraus. Die homogene Abstimmung des SyncDrive Move Plus-Motors bedeutet eine große Portion Fahrspaß, egal ob am Anstieg, Abfahrt oder in der Ebene. Zudem lässt sich der Renner auch in rasanten Kurven nicht aus der Ruhe bringen, liegt satt auf der Straße und bolzt auch gierig Tempo weit über der gesetzlich erlaubten Unterstützungsgeschwindigkeit.
Die Auswahl der Komponenten ist dazu stimmig und passt zu einem Rennrad wie die berühmte Faust aufs Auge. Die Qualität und die Verarbeitung ist auf einem sehr hohen Level, nur das Motorengeräusch könnte den ein oder anderen stören und ist noch verbesserungswürdig. Prima gefielen uns die Einstellungsmöglichkeiten und Funktionen in der App sowie die alltagstaugliche Ausrüstung, die das Einsatzspektrum noch einmal erhöht. Dem Fahrspaß steht mit dem Defy E+ nichts im Wege.
👍 Das gefällt
- Dezente Design des Carbon-Rahmens
- Sehr natürliche Fahrgefühl
- Anpassungsmöglichkeiten des Motors in der App
- Endurance Geometrie
- Auch ohne Motorunterstützung hervorragend zu fahren
👎 Das gefällt weniger
- Motorengeräusch
- Reifenwahl aufgrund von Hookless-Felgen etwas eingeschränkt
🧡 Das perfekte Rad für …
… alle, die sie nicht völlig verausgaben möchten/ können und dennoch ihrem Hobby alleine oder sogar in der Gruppe weiter frönen möchten.
* Größe ML, ohne Pedale