Es werde Licht! Und es ward Licht. In einer stockdunklen Frühlingsnacht 1918 schieben italienische Alpini am Gipfel der Cima Tignalga ein monströses Flutlicht auf Schienen aus seinem Schutzstollen. Und illuminieren das Valle San Michele bis hinab ins vier Kilometer entfernte Tremosine.
Sommer 2018: Von dem Tiefstrahler, den siebzehn Geschützstellungen und sieben Wohnhöhlen am Gipfel ist nichts mehr zu finden. Hundert Jahre heilen viele Wunden. Die Natur holt sich zurück, was ihr gehört: den zwei Kilometer langen, messerscharfen Berggrat. Und den unscheinbaren Gipfel, der auf drei Seiten jäh abbricht. Markus, Stefano und ich stehen kurz vor Sonnenuntergang auf dem hundertjährigen Spähposten. Mich treibt ein wilder Mix aus Bergauf-Müdigkeit, Adrenalinvorschuss ob der anstehenden Abfahrt und Demut vor den Opfern des „Grande Guerra“ um. Wohin das Auge blickt – Zeugen des Gebirgskriegs 1915 bis 1918. Am eindrücklichsten: ein strahlend helles Zickzackmuster im Norden über unserem Spähposten, das sich kunstvoll eine karstige Südwand emporwindet – die Nachschubtrasse hoch zum Corno della Marogna.
Tremalzo: Fake News aus den Neunzigern

Corno della Marogna? Noch nie gehört? Bocca di Val Marza? Fehlanzeige? Auch wenn du bei beidem den Kopf schüttelst, warst du mit ziemlicher Sicherheit schon einmal da. Nur kennst du den karstigen Corno-Klotz als „Tremalzo“ und die Marza-Scharte vom Scheiteltunnel. Schon Elmar, der „Erfinder“ des Bergradelns am Gardasee, mahnte bereits 1991 in der Erstausgabe des Moser-Evangeliums seine Gläubigen: „Während der Monte Tremalzo eher ein langweiliger, nichtssagender Hügel ist, thront sein Gegenüber (der Corno della Marogna, Anm. d. Red.) wie der Steinbeißer persönlich als alle umliegenden Täler beherrschender Felsklotz an zentraler Stelle.“ Amen. Drei Jahrzehnte Garda-Geschichte offenbarten jedoch: Trotz aller warmen Worte war von Anfang an nicht der Zungenbrecher Corno della Marogna, sondern der langweilige und nichtssagende Hügel namens Tremalzo in aller Biker Munde. Tremalzo ist also Fake News. So wie der „Altissimo“ auf der anderen Lagoseite. Anders als der Name andeutet, ist er bei weitem nicht der höchste aller Gardaseeberge. Aber hört sich eben griffiger an als „Monte Baldo“.

So wie Riva, Torbole und Arco. Das Dreigestirn am Nordende steht synonym für den ganzen See. Dabei ist der Nordteil nur ein Drittel der Wahrheit. Italien hat ein Parteienproblem: Zu viele Köche verderben den Brei. Auch der Gardasee hat ein Parteienproblem: Eine GroKo aus drei politischen Regionen (Trentino, Venezien und Lombardei) darf – oder muss – sich den größten See Italiens teilen: Den Trentinern gehört der Norden, den Veneziern der Osten und den Lombarden der Westen. Die „Nordstaatler“ rund um Riva, Torbole und Arco vermarkten ihren Teil des Lago seit den Neunzigern konsequent als Abenteuerspielplatz für gestresste Münchner. Motto: morgens kiten, mittags biken (zwischen Wind’s Bar und Mecki’s) und abends klettersteigen.
Im sonnigen Marketingschatten des Lago

Zehn Kilometer Tunnelblick: Durch die Uferstraße „Gardesana Occidentale“ zwar nur eine viertel Autostunde vom quirligen Riva getrennt, träumte der Wilde Westen, der lombardische Teil des Lago, in der Zwischenzeit selig vor sich hin. Limone sul Garda – das Epizentrum der „Riviera dei Limoni“, der Zitronenriviera – wirkt auf mich wie das schönste Freiland-Altersheim am Lago. Was Monza für die Formel 1, ist Limone für den Rollator. Aber der Dornröschenschlaf im sonnigen Marketingschatten des Trentino ist vorbei!
Die Lombarden sind endlich hellwach – und erkennen, welchen unermesslich reichen Schatz ihr Land am See auch für Mountainbiker birgt: mediterranes Flair an der „Gardasee-Riviera“ zwischen dem idyllischen Limone, dem luxuriösen Gardone und dem romantischen Salò. Ein Stockwerk höher locken die Sonnenbalkone von Tremosine (mit Vesio als dem bekanntesten Dörflein) und Tignale mit toller Aussicht auf den „Benaco“ – und mit lotrechten Abbruchkanten zum See. Wer auf der „Terrazza del brivido“, der „Schauderterrasse“ von Pieve, steht, kann den Kite-Surfern quasi auf den Schirm spucken. Im nahegelegenen Hotel „Miralago“ speist man 350 Meter senkrecht über dem See. Und das Wallfahrtskirchlein mit dem wunderbar fließenden Namen „Madonna di Monte Castello“ thront wie mit Uhu festgeklebt auf einem zuckerhutartigen Felsen, 700 Meter über allem Irdischen.
Tremosine & Tignale: Balkonien für Biker

Die Sonnenterrassen hoch über dem Lago sorgen aber nicht nur für spektakuläre Tiefblicke, sondern erleichtern Bikern den Eintritt in die einsamen Hinterhöfe des Wilden Westens. „Val Pura“, „Valle Piana“ und „Dalco“ klingen auch im Jahre 27 n. Moser wie eine göttliche Verheißung für Bergabjünger. Auch wer statt runter nach Limone hoch ins spannende Dachgeschoss des Alta Garda will, findet hier in Tremosine oder Tignale seinen idealen Startplatz. Die hohen Ziele im „Parco Alto Garda Bresciano“ kratzen schließlich hart an der Zweitausendermarke. Da freuen sich die Waden, dass man nicht wie von Riva aus in 70 Metern Seehöhe starten muss. Vesio auf dem Tremosine-Balkon liegt auf 600 Metern, die Tignale-Dörfer immerhin 500 Meter über dem See.
Alle Wege führen auf den Tremalzo! Aber der meiner Meinung nach lohnendste schmuggelt sich aus dem Valle San Michele sozusagen durch das südliche Hintertürchen hoch zum Rifugio Garda. Hundert Prozent asphalt-, auto-, stress- und shuttlebusfrei. Die berühmten Tremalzo- Serpentinen surft man dann schwere- und anstrengungslos runter zum Passo Nota. Hier am Rifugio treffen dann wieder alle zusammen: Die armen Sünder, die von Riva über die Ponalestraße, Pregasina und Passo Rocchetta kommen und noch 700 Höhenmeter bis zum Scheiteltunnel vor sich haben. Die Shuttle-Fans, die es genau andersherum machen. Dann die Ledroseefraktion, die über die aussichtslosen Nordwälder zum Bocca dei Fortini keulten. Und schließlich wir, die wir ganz easy entscheiden können: einfach nur durch das Valle di Bondo runter nach Vesio rollen? Oder am Kriegerfriedhof vorbei noch über die Corna Vecchia? Tunnelblicke inklusive.
Lago tranquillo: die ruhige Seite des Sees

Wenn der Monte Tremalzo schon nicht viel mit der berühmtesten Bikestrecke des Planeten zu tun hat, so ist er mit seinen 1973 Metern zumindest der höchste Berg in den westlichen Gardaseebergen. Achtung, auch das sind Fake News! Der hierzulande ungehörte Monte Caplone ist nämlich genau zwei Meter höher. Dieser monströse Bergrücken im gottverlassenen Hinterland zwischen Garda- und Idrosee bildete vor hundert Jahren ein natürliches Bollwerk von großer strategischer Bedeutung. Entsprechend erbittert kämpften Alpini und Kaiserjäger hier oben, fast zwei Kilometer über dem Lago, um jeden Meter.
Gelüftet: das Geheimnis ewiger Jugend

Hundert Jahre nach Kriegsende kämpfen auch Markus und ich um jeden Meter. Aber nicht als Gegner, sondern als Freunde. Der Innsbrucker, früher mal Snowboard-Weltcupfahrer, kam schon in den Achtzigern hierher. Erst zum Wind- surfen, später zum Biken. Wie für mich ist auch für Markus der Lago das Wochenendwohnzimmer. Aber der Zahn der Zeit nagt auch an uns End- vierzigern. Er kämpft wie ein Trainingsweltmeister dagegen an, ich mit Elektrohilfe.
Übrigens: 42 Einwohner von Limone haben was ganz anderes gegen das Altern: ein besonderes Protein, das sie steinalt werden lässt. Vielleicht pilgern wegen dieser weltweit einmaligen Mutation so viele Senioren nach Limone? Vielleicht macht der Lago ja unsterblich? Wer weiß?
Geheimtipps:

1. Sauer macht lustig: Der berühmte, über dreihundert Jahre alte Zitronengarten des „Castèl“ im Nordwesten von Limone ist von April bis Oktober täglich zwischen 10 und 18 Uhr für Besucher geöffnet (Tel. 00 39/03 65/95 40 08).
2. Gruseln am Tremalzo: An Sommerwochenenden kann es am Tremalzo schon mal zu Radler-Staus kommen. Wer den Blick vom Scheiteltunnel für sich haben will, wartet, bis alle Biker im Tal sind – und übernachtet im Rifugio Garda (tremalzo.info).
3. Am Abgrund entlangradeln: Am 14. Juli 2018 wird der spektakuläre Radwanderweg nördlich von Limone sul Garda eröffnet. Der führt teilweise Hunderte Meter senkrecht über dem See bis zur Grenze mit der Provinz Trento (comune.limonesulgarda.bs.it).
4. Am Abgrund übernachten: In Pieve, ganz in der Nähe der „Terrazza del brivido“, der „Schauderterrasse“ (die 350 Meter über dem See schwebt), kann man äußerst spektakulär im Hotel Miralago übernachten (hotelmiralago-gardasee.com).
Infocenter:
Lage: Drei Regionen teilen sich den Gardasee: Trentino, Venezien und Lombardei. Der lombardische – also der westliche – Teil des Lago beginnt südlich von Riva und schließt die Orte entlang der westlichen Uferstraße („Gardesana Occidentale“), die Sonnenbalkone von Tremosine und Tignale sowie das ursprüngliche Hinterland zwischen Tremalzo und Monte Pizzocolo ein.
Reise-Infos: gardalombardia.de; infotremosine.org; tignale.org
Beste Reisezeit: Mit 900 Millimetern Niederschlag und 320 Sonnentagen pro Jahr ist der Gardasee eine regenarme und sonnenreiche mediterrane Enklave in den Südalpen. Entsprechend erstreckt sich die Bikesaison von März bis November. Anreise: Aus Richtung Stuttgart via A 7, Füssener Grenztunnel und Fernpass, aus Richtung München via A 8 und Inntalautobahn nach Innsbruck. Auf der Brennerautobahn zur Ausfahrt Rovereto Süd, weiter nach Riva und auf der „Gardesana Occidentale“ nach Limone (550 km/6:30 h ab Stuttgart; 400 km/4:30 h ab München). Von Limone aus in 15 bis 20 Minuten hinauf auf die Hochebenen von Tremosine und Tignale.
Bikeshops und -verleih: In der „Tabaccheria Ferrero“ mitten im Dorfzentrum von Gardola/Tignale kann man sich Bikes und E-Bikes ausleihen. Ansonsten bekommst du drüben in Riva, Torbole und Arco alles, was das Bikerherz begehrt!
Landkarten: In der Tabaccheria Ferrero bekommst du eine klasse 1:25 000-Karte mit eingezeichneten Trails. Zudem empfehlenswert: die Supertrail Maps „Gardasee Süd und Nord“.