Überwältigt von den Eindrücken, stehe ich auf der Aussichtsplattform des Rockefeller Centers in New York. Der Ausblick nach Süden: Empire State Building, Brooklyn Bridge, die Wolkenkratzer des Financial District. Der Ausblick nach Norden: Uptown Manhattan, Central Park, Hudson River, George Washington Bridge. 250 Meter unter mir pulsiert das Leben. Einheimische gehen ihren täglichen Geschäften nach, Touristen eilen von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Zäh fließt der Verkehr durch die engen Häuserschluchten. Hupen. Sirenen. Am Himmel knattern Hubschrauber, Flugzeuge starten und landen auf
einem der drei Flughäfen. Die Geräusche vereinen sich
zu einem kontinuierlichen Rauschen, Tag und Nacht. Wie in einem Bienenkorb, der niemals zur Ruhe kommt.

24 Stunden später, wenige Kilometer weiter nördlich: grüne Hügel, Wälder, Seen, so weit das Auge reicht. Mitten durch völlige Abgeschiedenheit führt ein graues Asphaltband mit zwei gelben Mittelstreifen. Darauf unterwegs: Tausende Rennradfahrer, alle gewandet in neongrüne Trikots mit der Aufschrift GFNY. Es geht stetig bergauf oder bergab, jeder kurze Geschwindigkeitsrausch wird bald wieder von einer steilen Rampe beendet. Niemals hätte ich geglaubt, im Speckgürtel der Millionenmetropole auf derart einsamen Straßen unterwegs zu sein.

Startnummernausgabe am Madison Square Garden
Ich komme donnerstags in New York an. Anlass meiner Reise: die Teilnahme am Jedermann-Rennen GFNY (ursprünglich Gran Fondo New York). Bei den Campagnolo GFNY World Championships NYC, wie das 160-Kilometer-Rennen heute heißt, starten jährlich 5000 Rennradfahrer aus aller Welt. Allein das ist Grund genug, sich das Event einmal näher anzusehen.
Freitags bereits das erste surreale Bild: Auf dem Bürgersteig der belebten 7th Avenue stehen Rennradfahrer in bunten Radtrikots, ihre Carbon-Boliden an sich gedrückt, die Köpfe im Nacken, um das Empire State Building zu bewundern. Sie warten darauf, dass die Startnummernausgabe und die Bike-Expo ihre Pforten öffnen. Beide befinden sich direkt gegenüber vom Madison Square Garden, wo die Basketballer der New York Knicks ihre Heimspiele austragen. Oder Stars wie Lady Gaga und U2 aufreten. Ein Stimmengewirr aus Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Deutsch und Französisch erfüllt die Luf. Schnell kommt man miteinander ins Gespräch.
97 Nationen sind laut Veranstalter vertreten, insbesondere aus Lateinamerika, wo der Radsport derzeit boomt. Und auffällig viele Frauen sind am Start, sie stellen fast 20 Prozent des Pelotons. Viele Teilnehmer hängen noch einige Tage dran, nehmen das Rennen zum Anlass, einmal New York City zu besuchen. Dan und Rob aus Kalifornien sind mit den Motorrädern nach New York gekommen. Ein Roadtrip unter Brüdern, den Dan beim Rennen mit einem dritten Platz in seiner Altersklasse krönen wird. Paul und Jürgen aus Nürnberg starten normalerweise bei Radtourenfahrten, einmal im Jahr gönnen sie sich ein ganz besonderes Erlebnis mit dem Rad. Zuletzt die Pyrenäen, diesmal New York. „Wir haben uns gedacht, es soll mal was Außergewöhnliches sein, deswegen der GFNY“, erklären sie. „Aber für uns ist dabei sein alles, Platzierungen sind egal. Die Hauptsache ist, Spaß zu haben.“ So wie die beiden Franken denken viele Teilnehmer.

Be a pro for a day
Trotzdem vermittelt der GFNY gemäß seines Slogans „Be a pro for a day“
Profi-Gefühle – mit großen und kleinen Maßnahmen: Das Rennen wird
live auf Facebook übertragen, im Zielbereich stehen Großbildleinwände.
Es gibt eine Einschreibkontrolle, Zeitmessung, Straßensperrungen und
freie Fahrt an allen Kreuzungen. Podiumshostessen posieren in knappen
Kleidern für Fotos – es gibt kaum (männliche) Teilnehmer, die dieses Angebot nicht wahrnehmen. Um einen fairen Wettbewerb zu garantieren,
werden Dopingkontrollen durchgeführt und die Räder in den vorderen
Startblöcken sogar auf versteckte Motoren untersucht. Und dann ist da
natürlich noch das einheitliche Erscheinungsbild mit dem GFNY-Trikot,
das im Startpreis inbegriffen ist – und getragen werden muss.

Samstags treffe ich Lidia und Uli Fluhme, die Köpfe hinter GFNY. Uli, gebürtiger Tübinger und passionierter Teilnehmer bei italienischen Gran Fondos, kam 2008 als Finanzanwalt nach New York. Nachdem Lidia, siebenfache Ironman-Finisherin, 2010 an Ulis Seite ihren ersten Gran Fondo in Italien gefahren war, beschloss das sportverrückte Paar,
ein solches Event in New York zu etablieren – und beide kündigten kurzerhand ihre Jobs.
Mittlerweile sprießen GFNY-Veranstaltungen weltweit aus dem Boden, in Lateinamerika, Europa, Asien und dem Nahen Osten. Auf der BikeExpo werben viele GFNY-Rennen an Ständen für eine Teilnahme und verkaufen Merchandising-Artikel. „Wir haben viele Wiederholungstäter“, sagt
Lidia Fluhme, „also Teilnehmer, die mehrere Rennen pro Jahr fahren.“
Dabei beträgt die Gebühr in New York je nach Anmeldezeitpunkt über
300 Dollar, auch viele andere GFNY-Events sind eher hochpreisig. Lidia Fluhme verweist auf die hohen Behördenkosten: „In New York dürfen keine freiwilligen Helfer den Verkehr regeln, sondern nur die Polizei. Streckensicherung und Bewilligungen allein kosten 700 000 Dollar.“

Krämpfe am Cheesecote
Am Rennsonntag wird schnell klar, warum der GFNY vielen Teilnehmern
den vergleichsweise hohen Preis wert ist: Allein der Start auf der für den Verkehr gesperrten George Washington Bridge ist ein zutiefst beeindruckendes Erlebnis. Immer wieder wandert mein Blick Richtung Süden, zu den Wolkenkratzern Manhattans, die im morgendlichen Sonnenlicht erstrahlen. Eine Soul-Sängerin schmettert die US-Nationalhymne, dann ist das Rennen eröffnet – und erreicht bereits nach drei Kilometern die grüne Wildnis am Hudson River. Dass die Strecke nicht durch Downtown Manhattan führt, stört mich persönlich nicht, die Tage vor und nach dem Rennen halten genügend Großstadt-Erlebnisse bereit.

Gepackt vom Rennfieber, erliege ich dem typischen Anfängerfehler und
stiefle viel zu schnell los. Nach dem längsten Anstieg, Bear Mountain, reiht sich zwischen Kilometer 80 und 120 eine fiese Welle an die nächste. Drüber drücken geht irgendwann nicht mehr, mit Krämpfen in beiden Oberschenkeln und Tränen in den Augen muss ich meine Gruppe ziehen lassen. Am bis zu 17 % steilen Cheesecote-Anstieg fürchte ich sogar kurzzeitig, schieben zu müssen. Nach einigen Kilometern Solofahrt findet sich eine neue Gruppe. Michal, ein Arzt aus Pittsburgh mit polnisch-österreichischen Wurzeln, entpuppt sich als Leidensgenosse. Auch er ist von Krämpfen geplagt. Gemeinsam durchstehen wir so manche Krise und erreichen schließlich überglücklich, stolz und hungrig das Ziel.

Im großzügigen Finish-Village werden die Strapazen vergolten: Kühles
Bier und leckere Pasta erwarten uns. Hunderte Teilnehmer verfolgen am
Nachmittag die Siegerehrung, tauschen sich über die Erlebnisse aus,
suchen ihren Namen in den Ergebnislisten. Bei der Rückfahrt nach Manhattan – ohne Autos auf einem gutausgebauten Radweg – begeistert wieder die Skyline von New York. Ein bisschen surreal, ja. Aber unvergesslich!

GFNY – Infos zum Event
Seit 2011 veranstalten Lidia und Uli Fluhme das Jedermann-Rennen GFNY in New York City, nächster Termin ist der 20. Mai 2018. Zur Auswahl stehen 160 oder 80 wellige Kilometer. Die Teilnahme kostet
derzeit (Stand Juli 2017) 229 US-Dollar und wird monatlich 10 Dollar teurer. Die Strecke führt nach dem Start auf der George-Washington-Bridge im nördlichen Manhattan flussaufwärts entlang des Hudson River durch die US-Bundesstaaten New York und New Jersey. Unzählige kleinere Steigungen und fünf größere Anstiege mit Längen zwischen anderthalb und sechs Kilometern summieren sich auf 2400 Höhenmeter.
Mittlerweile gibt es weltweit über 20 GFNY-Events, die lohnende Reiseziele mit herausfordernden Jedermann-Rennen verknüpfen, u. a. am
Mont Ventoux, in Jerusalem, Italien, Indonesien, Argentinien und Brasilien. Der zweite GFNY Deutschland findet am 3. September 2017 in Hameln statt.