Radfahren als Pyschotherapie: So hilft das Fahrrad den Menschen in der Ukraine

Ein Fahrradhändler aus Kyjiw im Interview
„Radfahren ist die beste Psychotherapie“

Inhalt von
Veröffentlicht am 08.12.2024
Anton Shooski mit dem Fahrrad in Kyjiw
Foto: Volodymir Pankevich

Zerstörte Häuser, Luftalarm, Stromausfälle: seit Februar 2022 befindet sich die Ukraine im Kriegszustand. Inmitten des russischen Angriffskriegs versuchen die Menschen in vielen Teilen des Landes ein möglichst normales Leben zu führen. Insofern man unter diesen Umständen von so etwas wie Normalität sprechen kann. Einer dieser Menschen ist Anton Shooski. Er führt den Fahrradladen BigToys Bikes in der Hauptstadt Kyjiw. In seinem Job sorgt er dafür, dass die Menschen sich in der Stadt bewegen können. Vielleicht ist es sogar ein bisschen mit sein Verdienst, wenn Menschen während der Radfahrt mal kurz ein paar Sorgen vergessen. Wir haben mit Anton gesprochen. Das Interview hat Bombtrack Bikes vermittelt.

Anton, wie ist die Situation aktuell in Kyjiw?

Es ist heute deutlich sicherer als zu Beginn der Attacken im Frühjahr 2022. Anders als damals gibt es heute im Radius von fünf bis zehn Kilometern um die Stadt keine russischen Streitkräfte. Aber die Folgen des russischen Angriffskriegs siehst du natürlich an vielen Stellen. Viele Menschen haben ihre Häuser verlassen, manche haben ihr Leben verloren. Seit bald drei Jahren heulen täglich die Sirenen, um vor neuen Luftangriffen zu warnen. Immer wieder schlagen Drohnen und Raketen in Wohngebieten ein und bringen Tod und Trauer. Das ist schon ziemlich niederschmetternd.

Kyjiw Stadtansichten Streetart
Anastasiia Hutianska
Wie halten die Menschen diese Zeit mental und körperlich aus?

Ich kann da nur für mich sprechen. Aber Radfahren ist die beste Psychotherapie aller Zeiten. Selbst in den ersten Kriegswochen, als die Russen fast schon in der Stadt waren, hat es mir sehr geholfen auf dem Rad zu sitzen und anderen Menschen zu helfen. Einfach zu Hause zu sitzen und ständig neue, deprimierende Nachrichten zu erhalten, war für mich keine Alternative.

Anton Shooski von BigToys Bikes in Kyjiw im Bombtrack House Blend

Empfohlener redaktioneller Inhalt
Was machen die aktuellen politischen Entwicklungen in der Welt mit den Menschen? Etwa mit Blick auf die Wahlen in den USA.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Ukraine hier nicht nur für die Freiheit kämpft, sondern um ihre Existenz. Russland will nicht einfach noch ein paar Städte erobern, sondern die ukrainische Identität auslöschen. Seit Jahrhunderten setzen sie auf die Russifizierung, etwa indem sie unsere Literatur und unsere Sprache verboten haben, damit die Menschen ihre Identität vergessen. Wer nicht Russe werden will, spielt mit dem Leben. Das war in der Zeit der Zaren so. Das war in der Zeit der Sowjetunion so. Und das ist auch heute in den von Russland besetzen Gebieten so. Wer nicht russifiziert werden kann, wird umgebracht. Das ist Russlands Politik mit dem Ziel die gesamte Ukraine zu erobern und zu einem Teil Russlands zu machen. Dabei spielt die globale Politik natürlich eine wichtige Rolle. Sie hat direkten Einfluss darauf, wie effektiv die Russen ihre Ziele umsetzen können. Was das mit unserer Stimmung macht, kann man sich wohl vorstellen.

Kyjiw Stadtansichten beschädigtes Bürogebäude
Anastasiia Hutianska
Vor diesem Hintergrund haben die Menschen doch sicherlich größere Probleme, als sich um ihre Fahrräder zu kümmern oder die nächste Tour zu planen?

Selbstverständlich. Speziell zu Beginn des Krieges ging es einfach nur darum, Wasser und Nahrung aufzutreiben. Andererseits hat das Fahrrad selbst in dieser Phase den Menschen geholfen, sich zügig und vor allem unabhängig von Gas und Strom durch die Stadt zu bewegen.

Das Fahrrad wird also in erster Linie als Transportmittel gesehen?

Ja, aber nicht nur. Es geht schon auch um den sportlichen Aspekt. Denn das Fahrrad ist meiner Meinung nach nicht nur perfekt, um dich durch die Stadt zu bewegen. Es ist auch perfekt, um dich in Bewegung zu halten. Ich bin selbst nicht der größte Radsportler, aber das Fahrrad hilft immer, fit zu bleiben. Egal ob körperlich oder im Kopf.

Anton Shooski mit seinem Bombtrack Hook EXT
Volodymir Pankevich
Gibt es denn so etwas wie eine Radsport-Community in Kyjiw?

Oh ja, es gibt einige Gruppen, die sich mehr oder weniger regelmäßig treffen. Das geht von wirklich ambitionierten Rennrad-Gruppen bis zu entspannteren Gravelbike-Touren mit Kaffee und mehr. Mein persönlicher Favorit ist dabei übrigens das Café Cheburek.

Wie hat sich die Community in den vergangenen Jahren verändert?

Sie hat sich auf jeden Fall spürbar verändert. Dabei spreche ich nicht nur von den Straßen und Wegen, die gefahren werden. Es geht auch um den größeren Sinn dahinter. Wir setzen uns nicht nur aufs Rad, um den Kopf freizubekommen. Wir sammeln über das Radfahren auch Spenden, um unser Land in seinem Kampf zu unterstützen.

Auch gab es schon früh nach Beginn des Krieges Gruppen, die in den Norden gefahren sind, um den Menschen Nahrungsmittel und mehr zu bringen. Heute sind die Menschen vor allem in der Stadt und ihren Vororten unterwegs. Manchmal gibt es aber auch Gravelbike-Touren Richtung Südwesten. Denn dieses Gebiet gilt als frei von Minen.

Anton Shooski mit seinem Bombtrack Beyond+ ADV
Anton Shooski
Die Menschen treffen sich also zu organisierten Ausfahrten?

Genau. Mittlerweile kommt sogar manche kleinere Veranstaltung wieder zurück. Größere Events gibt es aber nach wie vor nicht.

Wie sieht es im Fahrradladen aus? Gibt es zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Versorgung mit Ersatzteilen?

Die Häfen am Schwarzen Meer sind für den Handel praktisch geschlossen. Es hat ein bisschen gedauert, um neue Wege für den Warentransport zu finden. Und klar, diese neuen Wege sind deutlich teurer. Dadurch steigen natürlich auch die Preise der Produkte und entsprechend sinken die Verkaufszahlen. Zumal ja nicht nur die Preise gestiegen sind, sondern auch die Wechselkurse und die Einkommen sich dramatisch verändert haben. Wir stehen hier also vor einem komplexen Problem.

Kyjiw Stadtansichten Stop War Schriftzug auf Auto
Anastasiia Hutianska
Du verkaufst in deinem Laden unter anderem Räder der Kölner Marke Bombtrack. Haben die Menschen in einer vom Krieg gezeichneten Gesellschaft keine Berührungsängste bei einem Fahrrad mit diesem Namen auf dem Unterrohr?

Ich glaube nicht, dass es da irgendwelche negativen Gefühle gibt. Aber es kann natürlich auch sein, dass ich es bislang einfach nicht mitbekommen habe. Generell ist die Marke in unserer Fahrrad-Community jedenfalls sehr beliebt. Ich habe noch nie Klagen über den Namen oder die Räder gehört.

Ukrainische Flagge in Trümmern in Kyjiw
Volodymir Pankevich
Was für Fahrräder fährst du selbst? Und welche Art von Touren unternimmst du damit?

Ich habe zwei Bombtrack Bikes. Anfang 2021 habe ich mir ein Bombtrack Beyond+ ADV zur ultimativen Bikepacking-Maschine für alle Fälle aufgebaut. Mit massiven 29 x 2,8 Zoll breiten Reifen und der höchsten Untersetzung aller Zeiten, mit einem 28er-Kettenblatt vorn und einer 10-51-Kassette hinten. Das ist mein absoulutes Lieblingsrad. Bevor dieser hässliche Krieg Anfang 2022 vollends ausgebrochen ist, habe ich mit meinen Freunden ein paar Trips in die Karpaten unternommen. Ich hatte mein Zelt und die komplette Ausrüstung auf meinen "Bombtractor" geladen. Die Fahrt über felsige, staubige und manchmal auch matschige Wege zu den Passhöhen fühlte sich großartig an. Es war das beste Fahrraderlebnis ever. Und das Rad ist wirklich perfekt für alle Bedingungen. Ich fahre das ganze Jahr über damit, auch wenn es regnet oder richtig heftig schneit.

Zudem habe ich mir kürzlich ein Bombtrack Hook EXT individuell aufgebaut. Das Rad ist auch im aktuellen House Blend Video von Bombtrack zu sehen. Im Vergleich zum Serienmodell habe ich schmalere 40-Millimeter-Reifen mit aggressiverem Profil vorne und einem semi-slick Profil hinten aufgezogen. So bin ich auf der Straße schneller, habe auf Schotter aber trotzdem immer alles unter Kontrolle. Ich war schon nach den ersten Kilometern verliebt. Das Rad ist schnell und doch komfortabel. Du kannst deine Bikepacking-Ausrüstung unterbringen und es einfach deinen Bedürfnissen anpassen. Wer mag, kann sogar breite 650b-Reifen montieren. Bislang nutze ich das Rad hauptsächlich für die schnelle Fahrt zur Arbeit oder Ausfahrten mit Gravel- und Cyclocross-Fahrer:innen. Aber ich plane auch ein paar Bikepacking-Trips, für die ich mir auf jeden Fall einen zweiten Laufradsatz mit 2.1 Zoll breiten Reifen besorgen werde.