China war für mich immer ein geheimnisvoller, beinahe rätselhafter Ort. Als wirtschaftliche und technologische Großmacht strebt das Riesenreich nach Einfluss in der Weltpolitik und sogar dem Weltraum. Intern herrscht ein semi-kommunistischer Überwachungsstaat. Aus dem bevölkerungsreichsten Land der Erde dringt nicht viel nach außen, und es kommt auch nicht viel rein. Statistisch ist knapp jeder fünfte Weltbürger ein Chinese und das Land fast so groß wie ganz Europa. Gigantische Dimensionen.
Ich gestehe, ich bin Winterflüchtling und habe es gern wohlig-warm. Sobald in Deutschland die ersten Schneeflocken fallen, klettere ich eigentlich in den Flieger Richtung Süden. Stolz bin ich darauf nicht. Aber Kälte finde ich furchtbar. Und nun soll ich im Dezember in China biken? Mich fröstelt es jetzt schon. 1953 haben Edmund Hillary und Tenzing Norgay den Mount Everest in Baumwollschlüpfern erstbestiegen, aber ich mache mir schon vorab in meine Hightech-Merinowolle-Unterhose. Weil wir auf über 3000 Meter Höhe campen wollen, um auf unseren Bikes das sinotibetanische Hochland zu erkunden.

Eigentlich habe ich die Reiseplanung in die Hände von Frank gelegt – ein in China lebender Holländer und unser Tour-Anbieter. Am Flughafen Peking angekommen, realisieren wir erst so richtig, welches Abenteuer vor uns liegt. Fotograf Marco, Filmer Alex, meine Schweizer Teamkollegin Nathalie Schneitter und ich sind uns alle noch etwas fremd – und das in einem noch fremderen Land. Welche Reiseroute, welche Flüge und welche Autofahrten wir antreten werden, wissen wir gar nicht so genau. In der ganzen Hektik mit Organisieren, Packen, Pässechecken habe ich total den Überblick verloren. Das chinesische Visum zu bekommen ist die erste Hürde, an der wir fast peinlich scheitern. Unverschämt teuer ist es auch noch. Mir als "Finanzministerin" der Reise wird ganz schlecht vom holprigen Start.
Kunming ist die Hauptstadt der Provinz Yunnan. Vier Flugstunden südwestlich von Peking startet unsere eigentliche Reise in einem Taxi, dessen Fahrer mit unserem Bike-Gepäck aber heillos überfordert ist. Wir müssen unsere MTBs zurücklassen, um mit dem Zug weiterzureisen. Überall blinkende Schriftzeichen, Lärm und Menschenmassen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu vertrauen, dass unser Tourguide Frank das Chaos aus der Ferne im Griff hat.
Außerhalb der Großstadt Dali wachen wir in einem kleinen Hotel auf. Als wir morgens die Gardinen unseres Zimmers beiseiteschieben, stellen wir erleichtert fest, dass unsere Bike-Boxen im Hof stehen. Es ist sonnig, aber kalt. Immerhin: Unsere Heizdecke hat uns in dem sonst komplett ungeheizten Hotelzimmer warmen Tiefschlaf beschert. Auf dem Weg Richtung Berg besuchen wir ein kleines Dorf, wo ältere Damen in traditionellem Gewand Handwerk betreiben. Sie tummeln sich um einen Tempel, an dem gerade ein Huhn blutig sein Lebensende findet. Wir sind mittendrin im Yunnanschen Alltag. Kurz darauf stehen wir aber mit unseren Bikes auf dem Bergkamm und blicken in die unendliche Ferne. Wir lassen uns in die erste Abfahrt der Reise fallen, genießen den Beginn eines berauschenden Abenteuers.

Dahua ist unser Fahrer für diese Woche, und da sein Englisch kaum besser als unser Chinesisch ist, verstehen wir nicht immer, wo es gerade hingeht. Ich versuche zu vertrauen, entgegen meinem normalen Kontrollwahn. Die Sonne ist schon untergegangen als Dahua von der Bundesstraße in ein dunkles Labyrinth kleiner Seitenstraßen abbiegt. Es geht schon länger bergauf. Auf 2600 Meter Höhe stoppen wir. Ein großer blonder Typ mit Clogs an den Füßen und Stirnlampe am Kopf winkt uns zu – es gibt ihn wirklich! Camping steht ab jetzt auf dem Programm, und Frank sagt, wir dürfen nun nur noch kleines Gepäck dabeihaben. Der in Tetris-Manier schön eingeräumte Kofferraum verteilt sich blitzartig auf der dunklen Straße. Was nimmt man mit für zwei Tage Biken und Zelten im bitterkalten Niemandsland? Merino lautet mein Joker.
Frank funzelt uns den Weg durchs Gestrüpp. Ein paar Minuten später taucht unser kleines Zeltlager auf. Frank hat in seiner Campingküche typisch chinesisch für uns gekocht. Normalerweise freue ich mich aufs Abendessen, aber mir ist etwas schlecht bei dem Gedanken, dass wir jetzt von jeglicher Zivilisation abgeschnitten sind – vom Internet ganz zu schweigen. Ich sorge mich, ob unser Equipment für Minusgrade geeignet ist. Die Nacht ist unangenehm, aber ich erfriere nicht. Am nächsten Morgen haben die Bikes eine Frostschicht auf ihren babyblauen Rahmen. Nun reitet auch eine Familie mit Maultieren ein, die uns begleiten wird. Es geht den ganzen Tag bergauf durch große Felder, über enge Wege, teils sehr steil. Immer wieder treffen wir Bauern mit Maultieren, Schafen, Ziegen, bis wir im mongolisch anmutenden Hochland ankommen. Die Weite hier auf 3300 Meter Höhe ist atemberaubend. Wir überqueren ein paar kleine Pässe, bis wir kurz vor Dun kelheit an unserem zweiten Camp ankommen. Nathalie und ich schleichen in die winzige Hütte unserer "Maultier-Familie" und schauen dem weiblichen Familienoberhaupt beim Kochen zu. Faszinierend, mit welcher Ruhe, Routine und Pr.zision sie aus irgendetwas Fleischigem, Zwiebeln und Gewürzen in vier vergammelten Töpfen über offenem Holzfeuer ein Essen zaubert.

Wir genießen die Wärme, aber holen uns fast eine Stickstoffvergiftung in dieser Zwei-Quadratmeter-Hütte. Später heizen wir unsere Füße noch mal über dem Bunsenbrenner und putzen kollektiv die Zähne, bevor wir in unsere Zelte krabbeln. Meine Angst vor dem ungewissen Neuen ist von der Höhenluft wie weggepustet. Die Nacht ist enorm unbequem und natürlich noch kälter, aber die Endorphine regeln das. Ich liebe dieses Freiheitsgefühl hier oben. Wie viele Menschen dürfen so etwas wohl jemals erleben?
Am nächsten Morgen strahlt uns die Sonne an, als wir den vereisten Reißverschluss des Zeltes öffnen. Unsere Körper fühlen sich dennoch steif an. Nathalie und ich fragen uns, ob das die Kälte oder das Alter ist – aber zum Philosophieren bleibt keine Zeit. Wir packen schnell zusammen, denn auf uns warten unsere Bikes. Über der weiten Hochebene weht ein eisiger Wind. Wir finden hier und da ein paar coole Freeridelines, wo wahrscheinlich noch nie ein MTB-Reifen den Boden berührt hat. Ein einzigartiges Gefühl.
Wir reisen weiter nach Shaxi – mit pittoresken Brunnen, Teichen, Brücken und Innenhäfen eine Stadt aus dem China-Bilderbuch. Auf dem lokalen Markt werden wir buchstäblich überströmt: hunderte Pilzsorten, fremde Gerüche, lautes Gegacker – und ein Outdoor-Zahnarzt, der "live" Zähne zieht. Wir besuchen einen Tempel in Shaxis Hochland, wobei Frank uns einige religiöse Hintergründe erklärt. Nathalie und ich fühlen uns aber wie in der letzten Doppelstunde Geschichte vor den Sommerferien und denken nur an eins: Wir möchten heizen! Vom Tempelberg geht ein Trail ab, und den wollen wir sofort runter. Ich glaube nicht, dass hier schon viele Mountainbiker vor uns waren. Und die Abfahrt mit ihren vielen steilen Steinpassagen hält ihr Versprechen!

In unserer vollgepackten Streichholzschachtel namens Auto geht es weiter Richtung Norden. Um sechs Uhr morgens stoppen wir auf 4292(!) Meter Höhe. Die buddhistischen Wimpelfahnen zappeln im eisigen Wind. Die Sonne geht erst in einer Stunde auf. Nun weiß ich auch, wie beklemmend sich dünne Luft anfühlt, muss noch mal an die Mount-Everest-Erstbesteigung denken und schmunzle. Ich habe mich noch nie so weit weg und gleichzeitig in meiner Mitte gefühlt.
Wir fahren weiter Richtung Tibet in die vor der ganzjährig schneebedeckten Meili-Bergkette auf 3500 Metern gelegene Stadt Deqin. Hier sind wir kurz vor dem Himalaya. Verzierte buddhistische Stupas, goldene Tore, weiße Öfen, aus denen Rauch aufsteigt, hier und da drehen wir an einer Gebetsmühle – natürlich im Uhrzeigersinn. Unser Karma-Konto wächst. Das Biken durch einen mit tausenden Gebetsfahnen dekorierten Wald verbuche ich als weiteres unvergessliches Erlebnis auf meinem schon randvollen biologischen Speicher. Plötzlich reißt mich eine dieser Fahnen abrupt vom Bike. Okay, praktisch sind die Wimpelketten im Wald nicht ...

Am nächsten Tag fahren wir am längsten Fluss Asiens entlang, dem mächtigen Jangtse, in das südlich gelegene Shangri-La, wo uns Dahua zu einer tibetischen Familie führt. Er kennt das Familienoberhaupt, aber kann sich kaum mit ihm verständigen, denn sie sprechen eine komplett andere Sprache. Es gibt übrigens circa 56 Minderheiten in China, und Yunnan beheimatet rund die Hälfte davon. Uns wird typischer Yak-Tee serviert – eine Mischung aus Tee mit Yak-Butter und Salz. Wir haben schon einige Yak-Rinder auf unserer Reise gesehen und uns dabei stets gewünscht, wir hätten deren wärmendes, mehrschichtiges Fell. Jetzt sollen wir den Joghurt ihrer Milch probieren, und so kulinarisch spannend das auch klingt – er schmeckt ekelhaft, wie fünf Monate über dem Verfallsdatum. Aber ist sicher top für die Verdauung. Aus Höflichkeit verziehe ich dabei keine Miene.
Später besuchen wir einen weiteren Tempel, der als buddhistisches Kloster dient. Wir schlendern geschätzte 200 Treppenstufen hinauf zu den majestätischen Hauptbauten. Bisher hatte ich nicht viel Kontakt mit Buddhismus, aber im Vergleich zu den bei uns zu Hause verbreiteten Religionen ist alles farbenfroher und wirkt irgendwie glücklicher. Passend zu meinen Gedanken sehen wir die Mönch-Jünglinge musizieren und tanzen.

Unsere letzte Destination ist Lijiang. Hier dürfen wir zum ersten Mal auf unserer Reise ganze zwei Nächte im gleichen Bett schlafen, welch Luxus. Am letzten Morgen betreten wir einen sehr urigen Tempel, untouristisch und friedlich. Als wir unsere Bikes durch den Innenhof schieben, macht ein Mönch gerade die Gebetskammer auf und begrüßt mit Trommeln und Rasseln den Tag, die Götter, den Dalai Lama und was auch immer. Wir hingegen biegen wenig später in den letzten Trail unseres Trips ein und schalten sofort in den Vollgas-Modus. Der Trail macht Laune, denn hier wurde mit Schüppe und Harke nachgeholfen. Wir schwingen unsere Bikes durch die Anliegerkurven, lassen unsere Hinterräder auf Tannennadeln ausbrechen. Viele Bodenwellen, ausgewaschene Rinnen sowie kleine Drops zaubern uns das fetteste Lächeln ins Gesicht. Wir verabschieden uns also standesgemäß von unserer Reise im fremden, aber gar nicht mehr so rätselhaften China.
Yunnan ist bunt, ist kulturell wie kulinarisch exotisch. Die unberührte Natur ist krasser Gegensatz zum Bild der Weltmacht China mit seiner Industrie und den versmogten Megacitys. Unser kleines Abenteuer im unendlich großen China hat mich etwas über mich selbst gelehrt: Ich kann auch einfach mal laufen lassen. So wie beim Biken. Erst hatte ich Sorgen, unsere Räder würden nicht ankommen, wir wären schlecht ausgestattet und ich könnte erfrieren. Aber mit jedem Tag verzogen sich diese drückenden Gedanken, und je mehr wir von Yunnan sahen, umso größer wurde die Neugier und umso kleiner die gedanklichen Schranken. "Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht" (Sartre). Der deutsche Winter macht mir jetzt auf alle Fälle keine Angst mehr.