Was tun, wenn man sein halbes Leben als Mountainbike-Profi um den Globus reiste – und doch irgendwann der Renn-Ruhestand ruft? US-Legende John Tomac kaufte sich eine Farm in Colorado und wurde Bauer. Der Schweizer Thomas Frischknecht, von der Bikewelt nur „Frischi“ genannt, gründete noch während seiner aktiven Rennkarriere 2002 ein eigenes Rennteam – und pflanzte fast zeitgleich seinen eigenen Weinstock. Aber nicht im Tessin, wo er 2003 Marathon-Weltmeister wurde, sondern in der Toskana. Genauer: unterhalb des mittelalterlichen Städtchens Massa Marittima. Inzwischen ist hier Frischis zweite Heimat. Auch dank der Bikestation Massa Vecchia von Ernesto, die unterhalb von Frischknechts Haus liegt.
Frischis Paradies im Herzen der Toskana

Ernesto heißt eigentlich Ernst Hutmacher und ist ebenfalls Schweizer. Der hat sich diesem feinen Fleckchen Erde schon vor über 30 Jahren verschrieben. Und es – auch mit der Hilfe seines Freundes Frischi – zu einem Bikespot von schon legendärem Ruf aufgebaut. Wenn Thomas mit seinem Team im Weltcup unterwegs ist, schauten Ernesto und seine Töchter Alice und Arianna nach seinem Haus. Um den Weinberg kümmern sich Frischis italienische Partner.
Bevor ich aber mit Frischi auf die Traum-Trails rund um sein Feriendomizil aufbreche, zunächst noch ein paar Highlights seiner Karriere: Als Sohn eines erfolgreichen Querfeldein-Rennfahrers wurde ihm der Radrennsport quasi in die Wiege gelegt. Nach dem Sieg bei der Junioren-WM 1988 im Querfeldein reist der Schweizer zwei Jahre später in die USA. In Durango findet die erste offizielle Weltmeisterschaft im Mountainbiken statt. Prompt wird Frischknecht Zweiter und verweist als gerade mal 20-Jähriger etliche Stars der Szene auf die Plätze. Es ist der Beginn einer beispiellosen, achtzehnjährigen Karriere im Mountainbiken. Frischis damaliger Sponsor Tom Ritchey erinnert sich: „In dem Moment, als der Junge aus der Schweiz die großen Namen wie Tomac, Overend & Co. das Fürchten lehrte, änderte sich die Attitüde des Sports. Es ging weg von dem verbissenen Rennrad-Racer-Image, hin zum wilden Biker, der nach dem Rennen schon mal auf dem Bauch durch den Matsch rutscht.“
Frischi sichert sich in den kommenden Jahren drei Mal den Gesamtweltcup und gewinnt in seiner Karriere insgesamt 18 Weltcup-Rennen. 1996 holt er noch den Vize-Weltmeistertitel im Cross- Country und Silber bei den Olympischen Spielen in Atlanta, doch in den Jahren danach macht er keinen großen Stich mehr. Es beginnt die Hochzeit von Epo & Co., dem sich Frischi entschieden entgegenstellt. Bittere Pointe: Vier Jahre nach jenem Vize-Titel bei der WM 1996 bekommt er von Jerome Chiotti, der in der Zwischenzeit des Do- pings überführt wurde, die Goldmedaille überreicht. Weltmeister mit Verspätung ...
Frischknecht beendet 2008 seine Karriere, nachdem er 2003 und 2005 bei der Marathon- Weltmeisterschaft noch mal Gold holt. Seither ist der dreifache Familienvater in Rennrente, aber nicht im Ruhestand. Eher im Unruhestand. Der heute 48-Jährige ist Teammanager des Scott- Sram-Racing-Teams, in dem auch der aktuelle Cross-Country-Superstar Nino Schurter fährt. Auch sein Sohn Andri gehört zu den Fahrern.
Wein, Pasta & Cappuccino – und Trails

Und was reizt den Schweizer nun an der Toskana? Wein, Pasta, Cappuccino und Dolce Vita natürlich! Doch vor allem die Trails rund um „sein“ Massa Marittima. Und Frischi fühlt sich hier inzwischen daheim fast wie in der Schweiz. Auch der Vater von Nino Schurter nennt hier ein Haus sein Eigen, Ninos Bruder wohnt in Massa, betreibt eine Bikeschule und schaufelt fleißig Trails. Die Schweizer haben offenbar großen Gefallen an der Toskana gefunden. Doch nicht nur die Schurters und Frischis sind in der Maremma aktiv. Die „Trail Brothers Tuscany“ – eine Crew von einheimischen Bikern inklusive einiger Guides von Ernestos Bikestation – bauen in und um Massa Marittima ein feines Trail-Netzwerk.
Bei Ernesto und seinen Mädels ist man als Biker, E-Biker oder auch Rennradfahrer bestens aufgehoben. Massa Vecchia bietet Top-Bikes von Scott zum Verleih an. Die Station besteht aus einem alten Gutshof, auf dem mehrere renovierte und neu errichtete Gebäude stehen. Ob einfache Ferienwohnung, Luxus-Suite im ersten Stock von Frischis Haus mit Blick auf seinen Weinberg oder Campingplatz – in Massa Vecchia findet jeder Zweirad-Fan die perfekte Bleibe auf Zeit. Neben dem gemütlichen Hof, in dem abends unter Pavillons toskanischen Gaumengenüssen gefrönt wird, bietet die Bikestation sogar einen eigenen Pumptrack und einen Pool zum Abkühlen.
500 Kilometer Trails direkt vor der Hoftüre

Doch zum Planschen bin ich eigentlich nicht gekommen. Ich will die Trails erkunden. Mein Glück ist, dass mir Frischi diese selbst zeigen möchte. Ob das die Gäste der Bikestation auch erwarten dürfen? Zumindest gesellt sich der Schweizer beim Abendessen schon regelmäßig zu den Gästen. Denn zu Gast in Massa Vecchia zu sein heißt auch, zu Gast bei Ernesto und seiner Familie zu sein – und zu der gehört natürlich auch Frischi. Diese inzwischen durch und durch italienische Gastfreundschaft schätzen seine Gäste und kommen immer und immer wieder.
Frischi hat sich heute die Tour durch den sogenannten Canyon vorgenommen, in unmittelbarer Nähe zu Massa Marittima. Er verspricht mir, dass dieses eines der Trail-Highlights sei. Wir pedalieren zunächst über die Teerstraße in Richtung Canyon, biegen dann aber vorher in den Wald ab, um zuvor noch eine kleine Trail-Runde zu fahren. Es ist nicht besonders heiß an diesem Tag. Der Regen der Vortage hat für Abkühlung gesorgt. Doch im Hochsommer kann es untertags schön heiß werden. Da ist Biken am frühen Morgen angesagt. Frischi erzählt mir, dass auch Tagestouren ans Meer stattfinden. Das weiter südlich gelegene Bike-Resort „Punta Ala“ bietet ebenfalls tolle Trails, und diese enden zum Teil direkt am weißen Mittelmeerstrand. Auch ein Tagestrip nach Elba ist im Massa-Vecchia-Programm. Doch mir bieten die Trails um Massa Vecchia schon mehr als genug Auswahl. Wer einen Tag nur berg- ab donnern möchte, kann eine Shuttletour buchen und die Trails am Monte Arsenti hinabdüsen. Die waren 2016 Schauplatz der Superenduro-Rennserie – da kesselt es also richtig.
Durch die Mini-Schlucht von Massa

Inzwischen haben wir etliche bestens gepflegte Trails hinter uns gebracht. Bergauf und bergab. Die kleinen Hügel rund um die Bikestation scheint der MTB-Gott höchstpersönlich geschaffen zu haben, es ist einfach das ideale Gelände mit perfektem Gefälle. Immer wieder erwartet uns eine kurze Abfahrt oder ein Trail, der mit unzähligen Kurven leicht abschüssig durch den Wald verläuft. Nach knapp eineinhalb Stunden im „Weltcup-Pensionärs-Tempo“ stehe ich etwas atemlos oben am sagenumwobenen „Canyon“. Und Frischi? Der schießt gleicht wieder voraus. Eigentlich handelt es sich um einen metertiefen Hohlweg, der so perfekt in Richtung Tal mäandert, dass man meint, die Natur hätte an uns Biker gedacht, als sie diese Rinne in die Landschaft zog. Die Schaufeln der Trail-Bauer der Bikestation gaben dem Canyon eigentlich nur den letzten Feinschliff. Wer hier keinen Flow erlebt, sollte den Sport wechseln! Kurve um Kurve windet sich der Trail gen Tal. Die hohen Wände der Mini-Schlucht dienen dabei als perfekte Anlieger. Wer das Spiel mit der Schwerkraft beherrscht, kann die Steilwände absurfen und einen Wallride nach dem anderen probieren. Viel zu schnell spuckt uns der Canyon in Sichtweite des Hügels von Massa Marittima wieder aus. Wer noch Saft hat, kann gleich noch mal hochtreten und an seiner Ideallinie feilen. Dass der Canyon so nah bei der Bikestation liegt, hat auch den Vorteil, dass man am Abend oder nach der Anreise aus Deutschland noch schnell eine Runde drehen kann.
Ich hingegen habe an diesem Tag einen ande- ren Plan: Ich will der guten Küche der Bikestation fremdgehen und habe mich zum Pizzaessen mit Frischi oben auf der Piazza Garibaldi verabredet. Nur zehn Gehminuten, aber gefühlte 200 Höhenmeter entfernt, steppt hier oben am Abend der Bär. Nach hauchdünner Pizza, leckerem Wein, einem Espresso und zwei Kugeln Eis bin ich satt, müde – und glücklich. An diesem Abend beginne ich zu verstehen, warum es so viele Mountainbiker wie Ex-Profi Thomas Frischknecht hierherzieht: Die Menschen in der Toskana sind herzlich, die Trails traumhaft und das Essen einfach nur köstlich. Dazu noch das von Ernesto geschaffene Biker-Urlaubsdomizil Massa Vecchia mit seiner Mischung aus italienischem Flair und Schweizer Gemütlichkeit. Ja, so stelle ich mir eine ideale MTB-Rentnerresidenz vor!
Infocenter:

Lage: Massa Marittima liegt auf einem 380 Meter hohen Hügel in der Maremma in der Toskana, etwa 85 Kilometer südwestlich von Florenz, 37 Kilometer nordwestlich der Provinzhauptstadt Grosseto und 46 Kilometer südwestlich von Siena. Das mittelalterliche Städtchen hat gut 8000 Einwohner.
Reise-Infos: www.turismomassamarittima.it
Beste Reisezeit: ganzjährig, am schönsten jedoch im Frühling und Herbst. Im Hochsommer ist es oftmals zu heiß zum Biken. Anreise: aus Richtung Stuttgart via Ulm, Lindau und Rheintal zum San-Bernardino-Tunnel. Über das Tessin, an Mailand und Parma vorbei nach Massa Marittima (830 km/8:45 h ab Ulm). Aus Richtung München über Kufstein und Innsbruck zum Brennerpass und via Verona, Bologna und Florenz nach Massa Marittima (750 km/8 h ab München).
Übernachtung: Hotel, Ferienwohnungen, Zeltplatz, Verleih- station, Pumptrack: Massa Vecchia ist das Epizentrum in Sachen Radsport in und um Massa Marittima. Hotelchef Ernesto Hutmacher und seine Töchter Arianna und Alice leben das Mountainbiken wie kaum sonstwer. Kein Wunder also, dass Bikegiganten wie Thomas Frischknecht und Nino Schurter hier ein- und ausgehen. Tel. 00 39/05 66/90 38 85
E-Mail: info@massavecchia.it; massavecchia.it
Guiding: Die „Trail Brothers“ bauen die vielen Trails rund um Massa Marittima, halten sie in Schuss und bieten organisierte Touren und Shuttlefahrten an (thetrailbrothers.com).
Geheimtipps:

1. Lecker: Das beste Gelato nach der Tour gibt es in der Bar Centrale in der Via Garibaldi mitten in der Altstadt von Massa Marittima. Unbedingt probieren: die Sorte „Torrone“.
2. Dunkel: Im Archäologischen Museum an der Piazza Garibaldi in Massa Marittima sind u. a. zwei nachgebaute Höhlen bestaunenswert (www.turismomassamarittima.it/de/i-musei/).
3. Esoterisch: der skurrile Tarot-Garten von Niki de Saint Phalle in Capalbio, etwa eine Autostunde von Massa Marittima entfernt (ilgiardinodeitarocchi.it).
4. Seit 3000 Jahren entspannend: das Thermalbad von Saturnia in der toskanischen Maremma, gut 100 Kilometer südöstlich von Massa Marittima (termedisaturnia.it).
5. Lautstark und farbenfroh: der Wochenmarkt am Mittwoch in der historischen Altstadt von Siena (enjoysiena.it).
6. Unknackbar: die weltbekannten „Geschlechtertürme“ von San Gimignano (sangimignano.com).