Als Mitte der Neunziger der MTB-Virus aus den USA nach Europa schwappt, ist die Euphorie auch hierzulande groß. Eine schrille Szene formt sich und mit ihr Marken, hinter denen echte MTB-Visionäre stehen. Einer der bis heute bekanntesten ist Karl-Heinz Nicolai. "Kalle" ist mit der Fertigung erst in einer Doppelgarage, dann in einem niedersächsischen Viehstall zu Hause. Von dort aus macht sich Nicolai einen Namen, kommt mit echten Klassikerbikes auf den Markt, viele fahren noch heute. Während andere bekannte Marken wie Cyclecraft, Votec und Bergwerk aufgekauft werden oder in die Pleite rutschen, mausert sich Nicolai zu einem Hightech-Industrieunternehmen mit Schweißrobotern und etlichen CNC-Fräsen. Auch ein gewisser Jürgen "Jü" Schlender lässt in den Anfangstagen seiner Firma Alutech bei Nicolai Rahmen fertigen.
In den 00-Jahren beginnt dann die goldene Zeit deutscher Radgiganten wie Radsport Arnold (heute besser bekannt als Canyon), Ghost und Cube. Deren Fokus auf Wachstum und Volumen jedoch klar "asiatisch" ist. Wie auf dem Weltmarkt üblich übernehmen Dienstleister in Fernost die Produktion der Rahmen und Anbauteile. Lediglich die Endmontage der Räder findet teils in Europa, auch in Deutschland statt.
Zweiter Frühling
Und heute? Da ist die Faszination Mountainbike natürlich ungebrochen. Der deutsche Ehrgeiz ohnehin. So verwundert es nicht, dass in den 2010er Jahren einige Marken aus der Wettkampfszene heraus neu entstehen: Aus dem Enduro-Rennsport kommen etwa Kevin Dewinski und Chris Reichling von Crossworx, die sich mit ihrer eigenen Radmarke einen lang gehegten Traum erfüllen. Auch Mathias Reichmann als begnadeter Downhill-Racer zückt das Konstruktionspapier, um sich ein Sportgerät nach seinem Gusto zu kredenzen. Nachdem immer mehr Kumpels seinen Rahmen ergattern wollen, legt er den Baustein für die eigene Marke. Ähnlichen Start-up-Geist zeigt man in Dortmund bei Last, wo erste Dirtjump-Rahmen (zunächst unter dem Namen Hase Bikes) in einer Garage parallel zu Studium und Job geschweißt werden.

Als dann die Corona-Pandemie über die deutsche Wirtschaft hereinbricht, ergeben sich für die Kleinserienhersteller à la Crossworx und Kavenz plötzlich ungeahnte Möglichkeiten: "Automotive Zuliefererbetriebe standen auf einmal ohne die riesigen Aufträge da, diese Lücken konnten wir für uns nutzen, um Rahmenteile in Deutschland zu fertigen. So gesehen war Corona für uns die Möglichkeit durchzustarten. Um unser eigenes Bike in Deutschland zu fertigen, konnte wohl keine bessere Chance kommen. Also haben wir uns getraut, diesen Schritt zu gehen, und der Mut wurde belohnt", so Giacomo Großehagenbrock von Kavenz. Auch die Lieferfähigkeit spielt den Herstellern mit deutscher Heimat in die Karten: Als die Logistikkette durch die Lockdowns in Asien zusammenbricht und danach horrende Frachtkosten für Container von Asien nach Europa anfallen, bleibt hier fast alles beim Alten. Innerhalb von nur wenigen Wochen stellen Kavenz, Last und Co. Custom-Bikes auf die Stollen, lediglich die Lieferverzögerungen der großen Komponentenhersteller wie Shimano und Sram bremsen auch Made in Germany aus.

Neben Alu auch Carbon
Wie schnell man in der Branche Fuß fasst, zeigt auch Christian Gemperlein. Der Gründer und Geschäftsführer von All Ahead Composites forschte für sein Studium im Bereich der Faserverbundwerkstoffe. Seine Diplomarbeit? Das als Leichtbauikone bekannte Biturbo-Monocoque-Laufrad mit sechs Speichen. Auch er wagt den Schritt zum Unternehmer, der Start der Komponentenmarke Bike Ahead folgt – und die Leichtbauparts schlagen voll ein. Als Gemperlein für namhafte Hersteller Prototypen fertigt, folgt der Durchbruch. Heute lassen unter anderem die Edelmarken Stoll aus der Schweiz und Last aus Dortmund in der Manufaktur in Würzburg ihre Carbon-Rahmen in wochenbasierten Chargen fertigen. Ob er jemals über eine Verlagerung der Produktion ins vermeintlich günstigere Ausland nachgedacht hat? "Unsere spezielle Carbon-Technologie ist komplex, da brauche ich direkten Zugriff zur Fertigung. Facharbeiter sind überall schwer zu bekommen. Die Rohstoffkosten werden vom Weltmarkt diktiert, und die Energiekostenentwicklung ist zwar unschön für uns, aber fast zu vernachlässigen. Warum also nach Asien? Dass man in Deutschland oder Europa nicht zu konkurrenzfähigen Preisen und Bedingungen fertigen kann, ist für mich ein Irrglaube", sagt der Franke. Bewusst ist die Manufaktur auf geringe Stückzahlen ausgelegt. Größere Volumen kann Gemperlein aber auch: Gemeinsam mit anderen großen Radfirmen baut er als Berater eine neuartige Carbon- Fabrik in Portugal auf: "Für mich war es schon immer ein Antrieb, Hightech-Carbon- Rahmen auch in Deutschland bzw. Europa herzustellen. Anfangs stieß ich noch auf taube Ohren, mittlerweile ist das Interesse sehr groß."

Das lokale Bewusstsein der Kunden sei größer geworden – so beschreibt es auch Kevin Dewinski, Mitbegründer von Crossworx Cycles. "Nicht nur uns begeistert der lokale Fertigungsbezug: Der Großteil der Arbeitsschritte unserer Rahmen – von Kartonagenherstellung über Lackierarbeiten bis hin zum Fräsen der Bauteile – findet im Umkreis von circa 30 Kilometern um unseren Firmensitz statt." Natürlich spielt auch die Nachhaltigkeit eine große Rolle, wenn es um die Überzeugung geht, in der Heimat zu produzieren: "Längere Abstimmungswege, Zollangelegenheiten und explodierende Frachtkosten spielten auch in unsere Entscheidung, hier zu fertigen, mit ein. Container mit komplett montierten Rahmen – viel Volumen, wenig Produkt – durch Weltmeere schippern zu lassen? Das war für uns ein No-Go", so Giacomo Großehagenbrock von Kavenz. Schließlich spielen gesellschaftspolitische Aspekte bei der Standortauswahl pro Europa oder Deutschland eine Rolle: "Wir haben die Verantwortung, in Ländern und mit Partnern zu produzieren, bei denen wir gute Arbeitsbedingungen vorfinden und das politische System Freiheit und Rechtssicherheit für jeden Einzelnen garantiert", sagt Jochen Forstmann von Last.
Man spricht Deutsch
Wie geht es weiter mit der deutschen MTB-Produktion? Jürgen Schlender fertigt zwar zu Großteilen noch in Deutschland, gibt aber hinter vorgehaltener Hand zu, dass er mit einer Produktionsverlagerung ins europäische Ausland liebäugelt. Die eigene Werkstatt sei schon wieder zu klein. Bei Nicolai ist man hingegen jüngst in eine neue Industriehalle gezogen, deren Photovoltaik-Anlage circa 50 Prozent des Energiebedarfs deckt. Auch in die Richtung Industrie 3.0 wird bei Nicolai gedacht: 3D-Druck-Roboter sind im Einsatz, die Kleinteile für die Serienfertigung ausspucken. Auch wenn nach und nach der Tüftler-Charme aus den MTB-Schmieden verschwinden wird: Dank all der Visionäre, die für ihre eigenen Mountainbikes Feuer und Flamme sind, aber auch dank der "neuen" Lage auf dem Weltmarkt wird der Standort Deutschland in Zukunft wichtiger werden denn je. Klasse
Hier findest du alle sechs getesteten Bikes "Made in Germany"