Als ich aus dem Sattel gehe, um zu beschleunigen, fährt mir mit einem Stechen der Krampf in den Oberschenkel. Ich setze mich schnell wieder hin, pedaliere weiter bergauf – und in meinem Kopf beginnt es zu arbeiten. 60 Kilometer sind erst gefahren. Von 103. Es folgen noch einige Wellen und vor allem, der Scharfrichter am Schluss: die 2,3 Kilometer am Mammolshainer Berg mit bis zu 19 Prozent Steigung. Wenn ich jetzt schon Krampfansätze spüre, wie ist das erst in 30 Kilometern? Mein Kopfkino liefert Bilder, wie ich das Steilstück hinaufschiebe. Grundsätzlich mal nichts verwerfliches, aber im ROADBIKE-Trikot als Redakteur identifizierbar? Und nachdem ich in den letzten Ausgaben von meinem Selbstversuch "Training nach Plan" berichtet habe und seit Januar vom Radlabor unter anderem gerade für Eschborn-Frankfurt fit gemacht werde?!? Die Schmach will ich unbedingt vermeiden!

ROADBIKE-Redakteur Moritz Pfeiffer am Mammolshainer Berg - mit Angst vor Krämpfen in den Berg gefahren.
10 000 Teilnehmende bei Eschborn-Frankfurt
Knapp zwei Stunden früher. Eric, unser Kumpel Robert und ich stehen in Startblock 1 bei der Skoda Velotour Eschborn-Frankfurt – einem der größen Jedermann-/-fraurennen in Deutschland. Unglaubliche 10 000 Menschen nehmen 2024 teil – ein neuer Rekord. Schon am Vortag waren auf der Autobahn immer wieder in und an zahlreichen Autos Rennräder aller Größe, Couleur und Preisklassen zu sehen, deren Besitzer das gleiche Ziel haben wie ich: Frankfurt. Hier fährt seit 1962 am 1. Mai die Weltelite des Rennradsports durch die Mainmetropole, das Umland und insbesondere den Taunus. Jahrzehntelang hieß das Rennen "Rund um den Henninger Turm", heute ist es als "Eschborn-Frankfurt" Teil der WorldTour, also der höchsten Liga im Profiradsport. Allerdings, das muss man kritisch anmerken, bislang "nur" für die männlichen Radprofis – ein Frauenprofirennen bleibt ein wünschenswertes Ziel für die Zukunft!
Seit 2002 treten auch die Jedermänner und -frauen in Frankfurt in die Pedale. Waren es im Premierenjahr gerade mal 556 Starterinnen und Starter, erfreut sich die Strecke durch die Häuserschluchten der Frankfurter Innenstadt, das Kopfsteinpflaster von Oberursel und Eppstein und die Anstiege und Abfahrten des Taunus großer Beliebtheit. Gerade in den letzten Jahren sind die Teilnehmerzahlen geradezu explodiert. Zum Rahmenprogramm zählen übrigens auch ein U23-Rennen, Lizenzrennen für die Nachwuchsklassen sowie ein unter der Schirmherrschaft des Frankfurter Radprofis John Degenkolb stehendes Fette-Reifen-Rennen für Kinder. Kurz: Am 1. Mai findet rund um Frankfurt ein wahres Radsportfest statt.
Die Mehrheit der Starterinnen und Starter ohne Profilizenz entscheidet sich übrigens für die lange 103-Kilometer-Runde durch den Taunus über Feldberg und Mammolshainer (zur Auswahl stehen auch eine 92-Kilometer-Runde, die den Mammolshainer auslässt, sowie eine flache 40-Kilometer-Strecke). Und vermutlich stehen alle ebenso nervös in ihren Startblöcken wie Eric, Robert und ich.
Wahnsinns-Geballer am Start
Pünktlich um 8.45 Uhr erfolgt der Startschuss – und das Peloton legt los wie von der Tarantel gestochen: Mit einem 47er-Schnitt ballert die erste Gruppe Richtung Frankfurt. Robert schimpft kurz, um sich dann nach ganz vorne zu verabschieden. Eric verliere ich schnell aus den Augen. Da er aber normalerweise die deutlich höheren Wattwerte tritt als ich, vermute ich ihn ebenfalls weiter vorne.
Auf perfekt abgesperrten Straßen jagen wir um die Häuserecken, immer weiter nach Frankfurt rein. Hier und da mal eine brenzlige Situation, ein zu beherztes Bremsen einzelner, quietschende Bremsscheiben, schimpfende Mitfahrer – und hier und da auch mal ein Sturz. Allzu viel nachdenken sollte man in solchen Situationen wohl nicht.
Nach zehn Kilometern steht immer noch ein 46er Schnitt auf dem Tacho, meine Wattwerte liegen konstant jenseits von Gut und Böse. In der Spitze immer wieder 600, 700, 800 Watt. Im Durchschnitt liegt meine Normalized Power bis in den Taunus hinein bei allen Fünf-Kilometer-Splits, die mein Garmin automatisch nimmt, deutlich über meiner FTP (Erklärungen für die Trainingsbegriffe/Abkürzungen findet ihr in unserem Lexikon).

Durch die Häuserschluchten der Frankfurter City jagte das Peloton mit bis zu 47 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit.
Es geht durch die tiefen Häuserschluchten zwischen den berühmten Wolkenkratzern der Frankfurter City. Ich nehme das irgendwie abstrakt wahr, echte touristische Blicke lassen die Fahrsicherheit und mein Tunnelblick nicht zu. Wir jagen über den Main, auf einer Uferstraße entlang und wieder zurück auf die andere Seite. Dann geht es erneut zwischen Hochhäusern entlang und schließlich langsam aber sicher wieder aus der Stadt hinaus.
Den Moment, mit Rücksicht auf die noch anstehenden vielen Höhenmeter einen Gang rauszunehmen und die erste Gruppe fahren zu lassen, habe ich längst verpasst. Ich denke: "Jetzt hast du dir schon so lange auf die Fresse gehauen und bist über deinen Werten gefahren, jetzt das Peloton fahren zu lassen, ist irgendwie auch sinnlos" – und ziehe weiter mit.
Tendenziell geht es aus Frankfurt heraus immer leicht bergauf – an den Fuß des Taunus. Das Tempo beruhigt sich nur bedingt, und ich merke, wie bei mir mehr und mehr die Lichter ausgehen. Ein Wattmonster war ich noch nie, und nachdem die fahrtechnisch anspruchsvollen Kurven und Antritte der Frankfurter Innenstadt seltener werden, bei denen mir meine Kriteriumserfahrung zugute kam, geht es nun auf den langen Geraden leicht bergauf vor allem um pure Power. Und die habe ich scheinbar nicht: Nach 25 Kilometern mit bis dato 44,7 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit muss ich kurz vor Oberursel die erste Gruppe fahren lassen.

Für die Schönheiten der Strecke hatten nicht alle Teilnehmenden Ruhe und Muße - hier ein Eindruck von der Kopfsteinpflasterpassage in Oberursel.
Die Gruppen, die von hinten kommen, fahren nur unwesentlich langsamer, es dauert eine Weile, bis ich mich gesammelt habe und wieder in einem Peloton mitfahre. Auf einmal kommt Kollege Eric von hinten heran. Mein "Wo kommst du denn auf einmal her" quittiert er mit einem ungläubigen Lachen. Was ich meine, aber mit Laktat im Gehirn nicht adäquat ausdrücken kann, ist: "Ich hatte dich weiter vorne erwartet, weil du mehr Power hast als ich." Er versteht: "Hast du gechillt und auf der faulen Haut rumgelegen", was ihm wiederum mit seinem Laktatpegel und der kaum geringeren Durchschnittsgeschwindigkeit nicht vereinbar scheint. Während ich in den Überlebensmodus schalte, pedaliert Eric langsam, aber stetig vorne raus.
Hinein in den Taunus
Der 11 Kilometer lange Feldberg ist ein Scharfrichter des Rennens. Nicht steil, aber lang und mittlerweile sind Temperaturen jenseits der 20 Grad erreicht. Ich halte mich nun endlich an die Vorgaben von Radlabor-Coach Michi Ecklmaier und pedaliere mit 80-85 Prozent meiner FTP bergauf. Trotz der Raserei am Anfang fühle ich mich okay, was nichts daran ändert, dass mich auf der gesamten Länge des Feldberganstiegs hunderte Rennradfahrerinnen und -fahrer überholen. Ich überhole in dieser Zeit genau fünf andere...

Scharfrichter bei Eschborn-Frankfurt, wenn auch nicht der steilste Anstieg, ist der über 11 Kilometer lange Feldberg im Taunus. Höchster Punkt: 862 Meter über dem Meer.
"Wie könnt ihr alle so schnell diesen Berg hochfahren", möchte ich mehr als einmal laut rufen, wenn mal wieder eine größere Gruppe von hinten an mir vorbeirollt. Nicht, dass es total überraschend wäre, dass andere schneller als ich den Berg hochkommen – das ist schon okay. Aber die schieren Massen kratzen dann doch ein wenig an mir. Ich behalte meine Linie nun aber bei und fahre klüger (also langsamer) als zuvor.
Aufrichtig freue ich mich über die vielen Zurufe von anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die mich in meinem ROADBIKE-Trikot und anhand meines Namens auf der Rückenstartnummer erkennen. "Moritz, cooler Podcast, den ihr macht" – "Super-Artikel in ROADBIKE, weiter so" – "Moritz, spannende Trainingsserie, viel Erfolg weiterhin" – "Bin gespannt auf den Rennbericht, ich will was schönes lesen". Auch an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön an alle, die mir etwas zugerufen haben – das motiviert sehr, sowohl im Rennen, als auch für die alltägliche Redakteursarbeit. Erinnerung an mich selbst: Ebenfalls öfter positives Feedback geben, wenn mir etwas gefällt!

Die Verpflegungsstelle der Skoda Velotour Eschborn-Frankfurt befand sich bei Kilometer 46 am Gipfel des Feldbergs.
Oben am Feldberg halte ich mich nicht lange auf, ich habe genug Verpflegung für das ganze Rennen eingepackt und meine Flaschen sind noch ausreichend gefüllt. Die rasende Abfahrt mit einigen technischen Kurven macht Spaß, wird aber immer wieder unterbrochen von mal mehr, mal weniger fiesen Gegensteigungen, die ich in liebevoller Abneigung Kackwellen nennen möchte. An jener nach Glashütten fährt mir der eingangs erwähnte Krampf in den Oberschenkel – und damit die Angst, am steilen Mammolshainer ein Debakel zu erleben.
Die Angst vor dem Schieben
Die gute Nachricht: Auf dem Weg aus dem Taunus heraus findet sich wieder ein Feld zusammen, das ordentlich Zug auf die Kette bringt und Windschatten bietet, aber nicht mehr ganz so schnell rast wie die erste Gruppe zu Beginn des Rennens. Ich versuche, so kraftsparend wie möglich zu fahren, verpflege mich regelmäßig mit Energiegels und -drinks und horche in meine Beine hinein. Krampft da nochmal was? Hält alles?
In Eppstein und Kelkheim warten Kopfsteinpflasterpassagen. Paris-Roubaix ist definitiv nicht mein nächstes Ziel, stelle ich fest. An mehreren kurzen Wellen gilt es, die Zähne zusammenzubeißen, die Beine scheinen aber zu halten. Doch als das Peloton wieder in Richtung Taunus abbiegt und es in der Anfahrt nach Mammolshain wieder länger bergauf geht, tue ich, was ich im morgendlichen Geballer durch Frankfurt nicht getan habe: Ich lasse die Gruppe einfach fahren und pedaliere mein eigenes Tempo bergauf. Leider zu früh, denn nach einer Rechtskurve geht es auf einmal wieder bergab – der Anstieg hat noch gar nicht begonnen. Hier wären Ortskenntnisse vielleicht sinnvoll gewesen...

Am Mammolshainer Berg lässt ROADBIKE-Redakteur Eric Gutglück den nötigen Ernst vermissen - die Redaktionsleitung denkt derzeit über eine strenge Abmahnung nach... ;-)
Doch nach einer schnellen Linkskurve bin ich schließlich drin im Mammolshainer, der zunächst auf der Hauptstraße mit 10 bis 12 Prozent beginnt. Ich pedaliere im leichtesten Gang, immer auf der Hut vor einem Krampf und mit Blick auf die Wattzahlen. Im Ort wird es kurz noch einmal flach, dann wieder steil und schließlich geht es rechts weg in den alles entscheidenden steilen Stich: die Straße Am Steinbruch mit 19 Prozent Steigung, die eigentlich eine Einbahnstraße in Gegenrichtung ist und nur bei Eschborn-Frankfurt bergauf befahrbar ist.
Und hier bin ich total überrascht: Das Steilstück ist gerade mal 170 Meter lang, und ich komme ohne Krise, Krampf oder Kollaps problemlos hinauf, während zahlreiche Mitstreiter um mich herum Schlangenlinien fahren oder schieben. Oben wird es flacher, zieht sich aber noch einen guten Kilometer bis zur Bergwertung. Klar, tut schon weh, aber nicht so, wie ich es mir ausgemalt habe.

ROADBIKE-Redakteur Moritz Pfeiffer am Feldberg, am Mammolshainer Berg und im Ziel (v.l.n.r.).
Im Express Richtung Ziel
Schnell formiert sich eine kleine Gruppe, die es bis zum Ziel in Eschborn noch einmal richtig krachen lässt. Kunststück, denn es geht nun nur noch bergab beziehungsweise flach ins Ziel. So stehen auf den letzten zehn Kilometern noch einmal 49 km/h im Durchschnitt auf dem Tacho. Dann jagt die Gruppe über die Ziellinie, im Sprint werde ich nicht letzter, aber auch nicht erster. Ausrollen, durchatmen, freuen!
Eric und Robert sind schon da. Wir klatschen ab und vergleichen dann unsere Ergebnisse. Robert ist als Einziger von uns unter drei Stunden geblieben, mit 2:56 Stunden und 35er Schnitt belegt er Rang 496 von 5152 männlichen Teilnehmern auf der langen Runde. Eric war fünf Minuten schneller als ich, bei ihm stehen 3:03 Stunden und Platz 789 zu Buche. Ich selbst werde mit 3:08 Stunden und 32,9 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit auf Platz 1066 gewertet.

ROADBIKE-Redakteur Eric Gutglück am Feldberg, am Mammolshainer Berg und im Ziel (v.l.n.r.).
In die Teamwertung können wir nicht eingreifen, da unser vierter Mann kurzfristig grippebedingt verhindert war. Mit der von ihm zu erwartenden Zeit hätten wir vermutlich ungefähr zwischen Platz 40 und 50 der knapp 200 Teams gefinisht – aber das bleibt Spekulation.
Mit dem Ergebnis bin ich weitgehend zufrieden: Ohne Krise und im ersten Viertel aller Teilnehmenden finishen – meine Ziele für Eschborn-Frankfurt habe ich beide erreicht. Am Anfang bin ich vermutlich zu lange zu intensiv gefahren, am Ende am Mammolshainer zu konservativ und vorsichtig. Wieder was gelernt für das große Saisonziel, das nun als Höhepunkt und Abschluss meines Experiments "Trainieren nach Plan" ansteht: der Granfondo La Stelvio Santini über Mortirolo und Stilfser Joch.
Und aus Fehlern lernen heißt ja hoffentlich, es beim nächsten Mal besser zu machen. Denn es war sicher nicht meine letzte Teilnahme bei Eschborn-Frankfurt – diesem Radsportfest am 1. Mai in Frankfurt.