Kurz und knapp:
- Specialized bringt neue Generation des Gravel Bikes Diverge auf den Markt
- 20 mm-Front- und 30 mm-Heckfederung, Ausprägung während der Fahrt einfach einstellbar
- neue Geometrie
- Reifenfreiheit 47 mm (700C) bzw. 2,1-Zoll (650B)
- Rahmengewicht 1050 g (Herstellerangabe)
- SWAT-Box (Fach im Unterrohr für Werkzeug, Ersatzschlauch etc.)
- Montageösen für Bikepacking
- Maximales Systemgewicht 137 kg
- Modelle mit Carbon- und Alu-Rahmen
- erhältlich ab ca. Januar 2023
- drei Ausführungen zwischen 7500 und 15 000 Euro
Ausführliche Betrachtung
Ja, das neue Specialized Diverge ist ein Fully. Irgendwie. Aber kein Fully, wie man es vom Mountainbike kennt mit hohem Gewicht und klarem Fokus auf die Abfahrt. Sondern ein ebenso radikales wie behutsames Fully. Radikal, weil Specialized zusätzlich zur bekannten und bewährten Frontfederung Future Shock 2.0 erstmals eine vollwertige Heckfederung in ein Rennrad bzw. Gravel Bike einbaut.
Behutsam, weil die Federung optisch vergleichsweise unauffällig integriert ist und zudem das Komplettrad samt Federungssystem "nur" 400 Gramm mehr wiegt als das alte Diverge ohne Heckfederung. Zum Vergleich: Das vollgefederte Gravel Bike Niner MCR 9 RDO bricht aufgrund seiner wuchtigen Heckfederung stark mit Sehgewohnheiten und wiegt satte 11,8 Kilo (vgl. ROADBIKE 04/21).
Aber der Reihe nach! Specialized beschreibt seine Philosophie mit "suspend the rider, not the bike" – der/die Fahrer/in soll also gedämpft werden, nicht das Rad. Und soviel sei schon verraten: Den US-Amerikanern gelingt tatsächlich das Kunststück, das direkte Fahrgefühl eines Starrrahmens zu vermitteln, gleichzeitig aber effektiven Dämpfungskomfort zu bieten.
Funktionsweise der Heckfederung am Diverge STR
Achtung, jetzt wird es technisch. Und etwas kompliziert, denn irgendwie muss die fünfjährige Entwicklungszeit, die Specialized in das neue Diverge STR gesteckt hat, ja gerechtfertigt sein. Also: Im hinteren Ende des Oberrohrs sitzt ein hydraulischer Dämpfer mit 30 mm Federweg, der über eine Trägerplatte verbunden ist mit einer Art doppelten Sattelstütze – die "normale" Sattelstütze wird eingeschoben und geklemmt in einem als Framepost bezeichneten Rohr, das wiederum tief in das eigentliche Sitzrohr eingeschoben und ungefähr auf Höhe des Umwerfers (wenn es denn einen geben würde) fixiert wird.
Streng genommen kann man sagen: Die Sattelstützklemmung wurde durch zwei ineinander geschobene Rohre vom oberen Ende des hinteren Rahmendreiecks Richtung Tretlager verschoben – und wird oben durch den hydraulischen Dämpfer im Oberrohr kontrolliert. Da wir schon von "normalen" Rennrädern wissen, dass der Dämpfungskomfort am Heck umso höher ist, je tiefer die Sattelklemmung liegt und je mehr "Federweg" die Sattelstütze hat, kann man sich vorstellen, wie stark sich dieser Effekt potenziert, wenn das Sitzrohr quasi auf gesamter Länge ausweichen kann.

Pfiffig: Die Heckfederung ist individuell einstellbar – je nach Gewicht, Größe und Fahrstil des Fahrers bzw. der Fahrerin. Zum einen geschieht dies über die Framepost selbst: Nicht weniger als sieben verschiedene Modelle sind wählbar, die – je nach Beschaffenheit des Carbon-Layups – stärker oder schwächer federn. Alle Frameposts können zudem umgedreht eingebaut werden, was auch noch einmal das Ausmaß der Federung beeinflusst.
Wer ein Diverge STR kauft, bekommt zwei Frameposts mitgeliefert und kann somit mit vier verschiedenen Set-ups experimentieren. Welche Frameposts und welches "Stiffness-Level" man werkseitig bekommt, klärt man mit dem Händler. Darüber hinaus kann man während der Fahrt ganz einfach in drei Stufen einstellen, wie stark die Heckfederung arbeitet – von maximaler Dämpfung bis quasi fixiert.

Erfreulich für alle Technikmuffel: Besonders gepflegt werden muss das Rear Shock System nicht, genauer gesagt: kann es gar nicht. Specialized bezeichnet das System als Verschleißteil und gewährt zwei Jahre Garantie, sollte der Dämpfer danach irgendwann seinen Geist aufgeben, wird er getauscht. Übrigens: Jede handelsübliche 27,2mm-Sattelstütze ist kompatibel, wer möchte kann auch eine versenkbare Dropperpost montieren.
Und der Rest?
Auch wenn die Heckfederung das Herzstück des neuen Diverge STR ist, braucht sich der Rest nicht zu verstecken. Specialized spendiert dem Rad üppige Reifenfreiheit – bis zu 47mm bei 700C und 2,1-Zoll bei 650B. Im Unterrohr kann man in einer sogenannte Swatbox Dinge verstauen, z.B. Werkzeug, Ersatzreifen oder Pumpe. Zahlreiche Ösen an Rahmen und Gabel erlauben die Befestigung von Bikepacks, das maximale Systemgewicht aus Fahrer, Rad und Ausrüstung beträgt großzügige 137 Kilogramm.
Die Geometrie wurde gegenüber dem bisherigen Diverge minimal angepasst: Die Tretlagerhöhe beträgt nun 85 statt 80 mm, die Kettenstreben wuchsen von 425 auf 429 mm, und der Sitzwinkel wurde 0,5 Grad steiler, um das Federungssystem zu kompensieren – wenn der/die Fahrer/in Platz nimmt, federt das Rear Shock System ein gewisses Stück ein, durch den steileren Sitzwinkel bleibt die Position auf dem Diverge aber identisch zum Vorgänger. Rahmen und Gabel kommen mit 12-mm-Steckachsgewinden, an der Gabel können auch 180mm-Bremsscheiben montiert werden. Die Kurbel dreht sich im klassischen BSA-Innenlager.

Drei Ausführungen des neuen Diverge STR wird Specialized anbieten. Die Top-Version S-Works Diverge STR kommt mit Sram Red/Eagle XX1 eTap AXS-Mix, neuen Terra CLX II-Carbon-Laufrädern und Tubeless-Bereifung für stramme 15 000 Euro – Gewicht: 8,5 kg.
Etwas "günstiger" ist das Diverge STR Pro, das mit Sram Force/Eagle X01 eTap AXS und Roval Terra CL Carbon-Laufrädern auf 8,9 kg kommt und 9500 Euro kostet.
7500 Euro ruft Specialized für das Diverge STR Expert auf, das mit Sram Rival/GX Eagle eTap AXS und Roval Terra-Laufrädern 9,5 kg wiegt.
Übrigens: Das bisherige Diverge bleibt erhalten! Die teureren Modelle verschwinden zwar, die einfacheren Carbonausführungen bleiben ohne Rear Shock System aber ebenso im Programm wie etwas günstigere Aluminium E5-Modelle.
Das Specialized Diverge STR im ersten Test
Die vielleicht wichtigste Frage: Wie funktioniert das Ganze? Nach unserem Eindruck unauffällig, aber ziemlich gut! Während der Fahrt hat man nicht unbedingt ein Aha-Erlebnis im Sinne noch nie wahrgenommener Gefühle, aber im Hintergrund arbeitet die Heckfederung kontinuierlich und effizient. Schaut man während der Fahrt nach unten, ist man überrascht, wie deutlich sichtbar der Dämpfer auslöst und ständig in Bewegung ist. Dabei hat man aber – anders als bei manchem Fully – nie das Gefühl, die aufs Pedal gebrachte Kraft verpuffe im Federungssystem: Das Fahrgefühl ist direkt, die Kraftübertragung effizient.
Der Aha-Effekt stellt sich nach unserem Eindruck vor allem an zwei Punkten ein: Zum einen ist dank der Federung die Traktion und die Kontrolle auf anspruchsvollem Terrain, aber auch auf Abfahrten deutlich höher, das Sicherheitsgefühl steigt. Schotter, Steine, Wurzeln, Nässe – auch dank des Dämpfungssystems sind wir überall schön runtergeknallt ohne das Gefühl zu haben, gerade übertrieben ins Risiko zu gehen.
Und: Während sich nach mehreren Stunden Fahrzeit normalerweise früher oder später der untere Rücken mit Verspannungen und Schmerzen meldet, herrschte diesbezüglich Funkstille. Die Einstellung des Rear Shock funktioniert sehr gut: Ein Griff zwischen die Beine – ans Oberrohr natürlich! – und mittels des kleinen Reglers lässt sich das System wahlweise spürbar fixieren oder auf vollen Federweg einstellen.

Die Frontfederung – bekannt vom "alten" Diverge, aber auch dem Roubaix – dämpft effektiv, angenehm und ebenfalls im Handumdrehen regulierbar. Das Handling des Diverge STR ist sportlich, aber nicht zu extrem, die Sitzposition komfortabel, aber nicht langweilig. Mit zentraler Sitzposition über dem Tretlager kriegt man ordentlich Druck aufs Pedal, bergab und auf Trails vermittelt das Rad Kontrolle und Laufruhe, der Spaßfaktor auf den insgesamt über 100 Kilometer langen Testrunden im Schwarzwald im Rahmen der Presse-Präsentation machten vor allem eins: ziemlich viel Spaß!

Ob dieses Gesamtpaket überzeugen wird? Specializeds Road & Gravel Category Lead Manager Stewart Thompson antwortete auf diese Frage: "Wir werden sehen. Das System ist sehr sichtbar und somit ungewohnt. Die Fragen werden sein: Wie funktioniert es? Brauche ich es? Wir sind überzeugt, alle, die es ausprobieren, werden die Faszination verstehen." Erhältlich sein wird das neue Specialized Diverge STR in allen drei Ausführungen ab ca. Januar 2023.