Preisfrage: Wer erkennt die Unterschiede zwischen diesen Gravelbikes? Oder besser gesagt: den Unterschied? Auf den Fotos seht ihr zwei in Alufolie gepackte, nahezu identische Merida Silex. Nur: Bei einem besteht der Rahmen aus Carbon, beim anderen aus Aluminium. Erkennt ihr trotz der Verkleidung, welches Bike aus welchem Material besteht? Wohl kaum. So viel vorab: Die Auflösung gibt’s am Ende.

Ohne Einsatz einer Waage lässt sich der Gewichtsunterschied von rund 600 g nur erahnen.
Erkennen wir den Unterschied? Diese Frage haben auch wir uns gestellt. Genauer: Spüren wir den Unterschied? Schließlich gilt die Frage "Alu oder Carbon?" als eine der wohl wichtigsten unserer Zeit. Zumindest für alle, die mit der Anschaffung eines neuen Fahrrads liebäugeln. Schließlich setzt heutzutage der Großteil aller weltweit verkauften Fahrräder auf einen Alu-Rahmen. Aus guten Gründen: Der Werkstoff ist vergleichsweise günstig, nicht zu schwer und relativ einfach zu verarbeiten. "Die Kosten für einen Carbon-Rahmen sind höher als für einen aus Aluminium, daher wird Carbon ausschließlich in den High-End-Modellen verwendet", erklärt Hannes Noller, Produktmanager bei Merida Bikes.
Leicht gegen günstig
Zwar sind in der Welt der Gravelbikes auch Stahlrahmen überdurchschnittlich beliebt. Doch in den meisten Fällen lautet die Frage eben doch: "Alu oder Carbon?" In der Regel setzen die Hersteller bei ihren Modellen vom Einsteigerbereich bis in die untere Mittelklasse auf Aluminium. Ab der gehobenen Mittelklasse bis in den High-End-Bereich bestehen Rahmen und Gabel dann meist aus Kohlefaserverbundwerkstoffen, kurz: Carbon. Wobei Carbon nicht gleich Carbon ist. Je nach Preisklasse bieten die Hersteller optisch scheinbar baugleiche Rahmen in unterschiedlichen Carbon-Qualitäten an.
Generell gilt, dass die günstigeren Aluminium-Rahmen oft auch mit günstigeren Komponenten ausgestattet werden. An Carbon-Rahmen arbeiten meist höherwertige Teile. Dass ein Hersteller quasi identische Gravelbikes anbietet, die sich nur in puncto Rahmenmaterial unterscheiden, ist eher die Ausnahme. Genau das aber macht Merida mit dem im vergangenen Herbst neu vorgestellten Silex. Die perfekte Möglichkeit also, beide Materialien direkt zu vergleichen.
Doch was unterscheidet die beiden Werkstoffe eigentlich? Für viele stehen die höhere Steifigkeit und das geringere Gewicht von Carbon im Mittelpunkt. Speziell ambitionierte Radsportler:innen mögen den direkteren Vortrieb eines verwindungssteifen Tretlagers und die messerscharfe Kontrolle eines steifen Lenkkopfbereichs. Und Gewicht ist beim Fahrrad fast immer ein Thema. Im konkreten Fall liegen zwischen den identisch ausgestatteten Merida-Modellen Silex 7000 (Carbon) und Silex 700 (Aluminium) knapp 600 Gramm. Bezogen auf das Gewicht der Kompletträder von 9,5 zu 10,1 kg ist das Carbon-Modell also rund 15 Prozent leichter.
Mehr Freiheit mit Carbon
Produktmanager Hannes Noller sieht allerdings noch einen ganz anderen Punkt: "Carbon ermöglicht die Realisierung von deutlich komplexeren Formen." Soll heißen, dass der Rahmen im Vergleich zu dem Pendant aus Aluminium am Ende nicht nur sauberer, sondern oft auch spektakulärer aussieht. Allerdings haben die Hersteller bei der Fertigung von Rahmen aus Aluminium deutliche Fortschritte gemacht. So lassen sich im sogenannten Hydroforming-Verfahren Rahmenformen realisieren, die früher unmöglich erschienen. Dazu werden die Alu-Rohre durch von innen wirkenden Druck in Form gebracht. Ist der Rahmen sauber verarbeitet und sind die Schweißnähte verschliffen, lässt er sich auf den ersten Blick oft kaum von einem Carbon-Rahmen unterscheiden. Vor allem, wenn noch eine ordentliche Schicht Lack aufgebracht ist.
Alu vs. Carbon: der Fahrvergleich
Doch was zählt, ist bekanntlich auf’m Platz. Oder in unserem Fall: auf’m Schotter. Deshalb haben wir die Silex-Zwillinge zum direkten Vergleich gebeten. Und zwar ohne vorher zu wissen, auf welchem Rahmen wir sitzen. Damit auch der Blick auf Details nichts verrät, haben wir die Rahmen mit Aluminiumfolie verkleiden lassen. So ging es mit bis auf den Rahmen baugleichen und identisch eingestellten Bikes auf die Schotterteststrecke. Zwei Fahrer, zwei Räder. Wieder und wieder haben wir dabei im fliegenden Wechsel die Bikes getauscht.

Spannend: der Moment der Wahrheit. Welches Gravelbike ist aus welchem Material?
Ergebnis der Übung: Jedes Mal, wenn einer von uns dachte, jetzt aber wirklich den entscheidenden Unterschied bemerkt zu haben, zeigte sich beim nächsten Wechsel: war wohl doch nicht der Fall. Selbst nach kurzen Bergsprints und technischen Passagen mussten wir letztlich zugeben, dass keiner mit Gewissheit sagen kann, welches der beiden Bikes auf dem Carbon- und welches auf dem Alu-Rahmen basiert.

Nach den Testfahrten dürfen wir die Gravelbikes endlich wieder auspacken.
Aber wir hatten noch einen Trumpf im Ärmel: den Gewichtsunterschied. Spätestens beim Anheben würden wir merken, welches der beiden Gravelbikes rund 600 Gramm leichter ist als das andere. Doch von wegen. Auch hier war sich keiner von uns wirklich sicher. Entsprechend neugierig gingen wir daran, die Räder von ihrer Verkleidung zu befreien. Natürlich nicht, ohne dass jeder von uns noch einen Tipp abgab: "Ich glaube unter der rot markierten Verkleidung steckt der Carbon-Rahmen. Aber wirklich sicher bin ich mir nicht." Allein diese Äußerung zeigt, wie nah Merida mit dem Alu-Silex dem 650 Euro teureren Carbon-Modell kommt. Wir hätten nie gedacht, dass es so eng ausgehen würde.
Deutlich entschiedener urteilte allerdings ein dritter Testfahrer: Er bringt ein paar Kilo mehr auf die Waage, vor allem aber wesentlich mehr Watt aufs Pedal. Er war sich nach dem ersten richtigen Antritt sicher: "Rot ist Carbon, ganz klar!" Er war mit seiner Power in Bereiche vorgestoßen, in denen der leichte Werkstoff seine Steifigkeitsvorteile ausspielen kann. Mit ein wesentlicher Grund dafür, dass Carbon im Renneinsatz das dominierende Rahmenmaterial ist.

Des Rätsels Auflösung: Das rot markierte Rad besteht aus Carbon, das schwarz markierte aus Alu.
Fazit
Für Hobby-Gravelbiker ist der Alu-Rahmen nicht nur mit Blick auf den Preis eine sinnvolle Wahl. Auch in den Fahreigenschaften muss sich das Alu-Silex vor seinem Zwillingsbruder aus Carbon nicht verstecken. Wer gerne Rennen fährt, ist mit dem leichteren, steiferen Carbon-Rahmen besser beraten. Mit einem Laufrad-Update ließe sich zudem noch etwas mehr Gewicht einsparen.