Noch etwas verschlafen blinzelt uns die Sonne entgegen, als wir uns dem Scheitelpunkt des Kühtai nähern. Es ist aber zugegebenermaßen auch noch sehr früh. Die Straße hinauf in den knapp 2000 Meter hoch gelegenen Skiort: kaum befahren. Zu früher Stunde sind Sebastian, Patric und ich in Längenfeld gestartet – mit dem Ziel, den Sonnenaufgang über den Tiroler Alpen oben auf dem Kühtai zu erleben. Gerade noch rechtzeitig treffen wir auf der Passhöhe ein. Eine Herde aus Kühen und Eseln ist ebenfalls schon wach – lässt sich von unserer Anwesenheit aber nicht weiter stören.

In wenigen Tagen wird hier bedeutend mehr los sein – denn der Ötztaler Radmarathon steht bevor, das Kühtai markiert die erste Prüfung auf der 230 Kilometer langen Strecke von Sölden nach Sölden. Auch Sebastian und ich werden am Start stehen – die Tage vor dem Event wollen wir nutzen, um das Ötztal zu erkunden – und uns schon mal zu akklimatisieren. Denn Sölden liegt immerhin auf über 1300 Metern Meereshöhe – und doch ragen die Pässe und Straßen ringsum gewaltig in die Höhe. Kein Wunder, dass sich auch die Profis vom WorldTour-Rennstall Bora-hansgrohe hier auf ihre Saisonhighlights vorbereiten. Wie klein fühlt man sich als Mensch im Schatten dieser Alpenriesen ...

Wir gehen in die rasante Abfahrt, schießen mit hohem Tempo durch die Galerien. Unser nächstes Ziel: der Haimingerberg. Unerbittlich steil, mit zweistelligen Steigungsprozenten, windet sich die Straße vom Inntal hinauf, Flachstücke suchen wir vergeblich. Sebastian und ich haben mächtig zu kämpfen. Kein Wunder: Guide Patric war bis Ende 2019 Extremradsportler, hält u. a. den Weltrekord für die meisten Höhenmeter binnen 48 Stunden: 36 900 Meter – in einer Fahrt. Fit ist er immer noch. Und hat anscheinend seinen Spaß beim Blick in unsere leidenden Gesichter. Das Ötztal ist sein Trainingsrevier, jeden Anstieg ist er unzählige Male gefahren. "Als Kind habe ich immer davon geträumt, von hier wegzukommen", gesteht er, als wir an einer Serpentine kurz Rast machen und den Blick ins Tal schweifen lassen. "Heute weiß ich, wie schön es hier ist." Recht hat er – die saftig grünen Wiesen, das spektakuläre Panorama und die perfekt asphaltierten Straßen haben längst auch Sebastians und mein Herz gewonnen.
Nach kurzer Verschnaufpause nehmen wir auch die letzten steilen Kilometer in Angriff. Und gehen im Formationsflug in die wohlverdiente Abfahrt, die uns hinunter nach Ötz führt. Dort machen wir Halt an der Vivan Eismanufaktur. Mit "italienischem Eis- und Kaffeegenuss" werben die Inhaber Viktoria und Stefano. Da können wir nicht nein sagen. Schließlich ist es nicht weit bis nach Italien – und Eis geht immer. "Morgen zeige ich euch ein paar echte Geheimtipps hier im Ötztal", verspricht uns Patric zum Abschied.
Keine 24 Stunden später klettern wir erneut. Die Runde beschreibt Patric als "Vier-Bergdörfer-Tour": Eigentlich könnten wir auch nur das Ötztal hinauf nach Sölden radeln, dank dem Radweg neben der Hauptstraße entgehen Radfahrer dem motorisierten Verkehr. Doch Patric führt uns links und rechts einige steile Rampen hinauf, die mit ihren beeindruckenden Kurvenfolgen und Blicken auf das Ötztal für alle Mühen entschädigen. Zwar entpuppen sich die Straßen allesamt als Sackgassen, allerdings mit zwei Vorteilen: kaum Verkehr – und die Serpentinen geht’s auch wieder runter. Fahrspaß? Garantiert! Vor allem der Anstieg nach Gries versetzt mich ins Staunen: Denn die Straße schlängelt sich in mehreren steilen Haarnadelkurven gen Himmel, die Konstruktion der Straße auf Pfeilern zeugt von großer Ingenieurskunst.
Auch für den dritten Tag hat Patric noch eine Kletter-Challenge in petto: Von Sölden rauf zum Rettenbachferner sind auf 10,7 Kilometer satte 1170 Höhenmeter zu überwinden – macht im Mittel fast elf Prozent Steigung. Hier oben gingen schon Etappen der Tour de Suisse und der Deutschland Tour zu Ende – wir wären definitiv aus dem Zeitlimit geflogen. Einzig an der Mautstation – die Radfahrer kostenlos passieren dürfen – gibt es eine kurze Chance zum Durchatmen, ehe die Straße zum Gletscher wieder unerbittlich ansteigt.
Oben ist nicht viel los, der alpine Ski-Weltcup steigt erst in gut zwei Monaten. Dafür schnappen wir mächtig nach Luft, schließlich befinden wir uns auf über 2700 Metern Höhe – die Fahrt durch den Rosi-Mittermaier-Tunnel sparen wir uns. Denn der führt noch weiter hinauf zum Tiefenbachferner, satte 2830 Meter über dem Meer. Die Abfahrt schlängelt sich auf derselben steilen Straße, die wir eben erklommen haben, hinab nach Sölden.
Unsere Scheibenbremsen kreischen vor jeder Serpentine, es dauert nur einen Bruchteil der Anstiegszeit, ehe wir wieder im Tal sind. Die Höhe hat uns hungrig gemacht, unserem Wunsch nach einer deftigen Mahlzeit kommt Patric mit einem Tipp nach: "Wir fahren am besten zur Panorama Alm." Bei Wiener Schnitzel, Kaiserschmarrn und Almdudler lassen wir dort die Tour standesgemäß ausklingen. Heute dürfen wir noch deftig zuschlagen, bis zum Ötzi ist’s ja noch ein wenig hin ...
Zum Abschluss unserer Rennvorbereitung lotst uns Patric rauf aufs Timmelsjoch – die höchste Passstraße im Ötztal. Sie markiert auch die letzte Prüfung beim Ötztaler Radmarathon, wenn Tausende Radsportler den fast 2500 Meter hohen Berg von der italienischen Seite aus bezwingen müssen, ehe sie sich in Sölden als Ötzi-Finisher feiern lassen dürfen. Für uns ist es also eine Streckenbesichtigung – auch wenn wir zunächst entgegen der Rennrichtung fahren.
Hinter Obergurgl steigt die Straße kräftig an, vorbei an der (für uns erneut kostenfreien) Mautstation. Eine kurze Abfahrt, dann ist der Scheitelpunkt auch fast schon in Sicht – wäre da nur nicht die steile Straße. Gepaart mit der dünnen Höhenluft erfordert das Timmelsjoch eine letzte Anstrengung – bei über zehn Prozent Steigung.

Oben angekommen, klatschen wir uns ab und genießen die Aussicht runter nach Italien – denn dafür werden wir beim Marathon wohl keine Zeit finden. Patric hingegen wird den Ötzi im Fernsehen kommentieren. "Ich werde an euch denken", grinst er zum Abschied, als wir nach einer rauschenden Abfahrt im Tal ankommen. Mit all den Höhenmetern in den Beinen fühlen wir uns gut vorbereitet.
Tourenvorschläge im Ötztal
Ötztal #1: Ötz – Kühtai – Haimingerberg – Ötz
Ötztal #2: Vier-Bergdörfer-Runde
Ötztal #3: Sölden – Rettenbachferner – Sölden
Ötztal #4: Sölden – Timmelsjoch – Sölden
Tipps zum Besuch im Ötztal
★ Lecker essen
Schnitzel, Kaiserschmarrn, Germknödel: An der Panorama Alm in Sölden gibt’s beste österreichische Küche.
★ Ab aufs Rad
"Biken für Kids und Eltern" bietet die Bike Republic Sölden – inkl. Downhill-Strecke und Pumptrack.
★ Wanderparadies
1600 km Wanderwege für alle Leistungsklassen schlängeln sich durch das Ötztal – perfekt für den Familienurlaub.