Mit dem Rennrad lässt es sich in der Heimat von "Il Pirata", der dort immer noch als Volksheld gilt, ganz vorzüglich aushalten. Und das ist wohl der wichtigste Grund, der jedes Jahr zahllose Radsportler zum Rennradfahren in Cesenatico und an die Adriaküste verschlägt.
Und so zäume auch ich ziemlich genau 18 Jahre nach Pantani mein Carbon-Ross, um die Straßen rund um das Städtchen Cesenatico zu erobern. Straßen, über die schon so viele Reifen gerollt sind. Denn Cesenatico ist auch die Heimat der Mutter aller Radmarathons: des Granfondo Nove Colli. Gerade mal 17 Seelen trafen sich am 19. Mai 1971 um 5 Uhr morgens an einer Bar, um eine 200 Kilometer lange Runde über die Hügel im Hinterland der Adriaküste zu drehen. 25 Jahre später waren es bereits mehr als 10 000 Teilnehmer. Seit dem Jahr 2010 liegt das Limit bei 12 000 Startplätzen, die heute bereits wenige Minuten nach Anmeldestart ausverkauft sind.
Während es hier im Sommer zu heiß und zu voll ist, drängen sich Frühjahr und Herbst zum Radfahren geradezu auf. Deshalb bin ich jetzt hier. Damit mich die Sonne des Mittelmeers die Kälte des Schweizer Winters vergessen lässt.
Ausgangspunkt der Touren
Meine Heimat für die nächsten Tage ist eines der berühmtesten Radsporthotels Italiens: Im Lungomare ist alles aufs Radfahren ausgerichtet. Jeden Tag warten geführte Ausfahrten, die Räder sind sicher im großen Radkeller untergebracht, es gibt einen täglichen Wäscheservice und grandioses Essen – nicht nur für Sportler. Ganz zu schweigen vom beheizten Pool und dem Spa-Bereich. Mein persönliches Highlight ist aber der Guide für meine geführte Tour.
Als ich mit Helm und Radschuhen vom Zimmer in die Rezeption komme, wartet Manuel Senni bereits auf mich. Bereit zur Abfahrt. Gerade erst hat er seine Karriere als Radprofi beendet. Seine sehnige Figur erzählt vom harten Training und dem entbehrungsreichen Leben, das er die vergangenen Jahre geführt hat. Heute begleitet Manuel mich, weg von der Küste, rein ins Landesinnere. Auf schmalen, versteckten Straßen, wie sie nur ortsansässige Radsportler kennen.
Mit dem Profi auf Tour
Und obwohl der freundliche Italiener dabei gerne redet, brauche ich doch eine ganze Weile, um mehr über ihn und seine Karriere zu erfahren. Was wohl auch daran liegt, dass ich kaum eine Frage zu Ende formulieren kann, weil ich so kurzatmig bin. Manuel dagegen pedaliert entspannt vor sich hin. Vor allem aber ist der Mann einfach unglaublich bescheiden.
Nachdem wir etwa eine Stunde lang scheinbar kreuz und quer durch die schöne Landschaft gefahren sind, habe ich zumindest so viel in Erfahrung gebracht: Im Jahr 2015 startete Manuel seine Profikarriere beim Team BMC. Nur ein Jahr später bestritt er seine erste von insgesamt vier Italien-Rundfahrten. 2017 wurde er hinter Nairo Quintana und Ben Hermans Dritter der Valencia-Rundfahrt und gewann das Colorado Classic.
Aufgrund körperlicher Probleme musste er seine Karriere schließlich im Alter von nur 28 Jahren beenden. Doch die Leidenschaft zum Radsport ist geblieben. Deshalb arbeitet Manuel heute nicht nur in einem Fahrradladen, sondern zeigt auch Radsportlern die schönsten Straßen seiner Heimat. Radsportlern wie mir.

Die kurvenreichen Straßen durchziehen das hügelige Hinterland der Adriaküste.
Höhepunkt unserer Runde ist der Anstieg nach San Marino – und zwar im wörtlichen Sinne. Nach rund 30 Kilometern beginnt die zwar nicht allzu steile, aber doch ordentliche Steigung. Obwohl Manuel sich offensichtlich zurückhält, kann ich sein Hinterrad kaum halten. Der Mann hat immer noch ordentlich Bumms in den Beinen.
San Marino ist ein außergewöhnlicher Ort. Im Osten der Apenninen bildet die Enklave mit ihren gut 60 Quadratkilometern den fünftkleinsten Staat der Welt. Vor allem aber gilt es mit seiner im Jahr 1600 in Kraft getretenen Verfassung als älteste durchgängig bestehende Republik. San Marino lebt hauptsächlich von Touristen, Landwirtschaft – und Briefmarkensammlern.

Tipps
★ Abstempeln: In San Marino gibt’s neben zollfreier Ware eine besondere Erinnerung im Reisepass.
★ Abschalten: Der Parco di Levante in Cesenatico lädt zum Lustwandeln und Durchatmen ein.
★ Auspressen: Im Herbst lässt sich das Olivenpressen in Mühlen wie der Ca’ Turchi in Balignano verfolgen.
Nach zehn Kilometern erreichen wir den auf rund 700 Metern gelegenen Gipfel. Ich spüre eine eigenartige Atmosphäre, getragen von vielen Touristen, kleinen Läden, Hotels und Banken mit altmodisch wirkenden Fassaden. Es ist nicht der schönste Ort, den ich mit dem Rennrad besucht habe. Doch der Blick auf das Mittelmeer und die Landschaft rundum lohnt die Auffahrt allemal.
In den Hügeln
Dann geht sie los, die wilde Fahrt auf der Achterbahn! Auf einer breiten Straße mit schnellen Kurven rasen wir hinab, nur um gleich wieder den nächsten Hügel zu erklimmen. Das wiederholt sich permanent. Diese Kaskade von Anstiegen und Abfahrten fordert und begeistert mich zugleich. Alle haben etwa 200 bis 300 Höhenmeter. Und alle führen über leere Straßen. Ein Traum in den Hügeln von Cesenatico.

Die Hügel sind die Stars des wohl berühmtesten Radmarathons in ganz Italien: des 200 Kilometer langen Granfondo Nove Colli.
Die den letzten 40 Kilometer verlaufen flach oder es geht abwärts in Richtung Hotel. Vorn tritt Manuel lächelnd in die Pedale, ich schneide Grimassen beim Versuch, sein Hinterrad zu halten. Und nutze immer wieder Fotopausen, um kurz durchzuatmen. So wie in Savignano sul Rubicone. Eine Statue erinnert an ein besonderes Ereignis. Vor mehr als 2000 Jahren überquerte Julius Caesar mit einer bewaffneten Legion den Fluss Rubikon, die Grenze zwischen dem römischen Italien und der Provinz Gallia cisalpina. Dabei hat er angeblich den berühmten Satz von den gefallenen Würfeln gesprochen: "Alea iacta est."

Insidertipp: zum Bauernhof
Darf es auch mal eine Aktivität abseits des Sattels sein? Das Team vom Hotel Lungomare bietet auch geführte Touren ganz ohne Rennrad an. Ein echtes Erlebnis ist dabei der Besuch des Agriturismo Il Germolio in Rimini. Zum Trip gehört unter anderem ein Mittagessen mit Produkten aus lokaler Landwirtschaft. Darunter erstklassiges Olivenöl und eine besonders leckere Tomatensauce. viadegliulivi.it
Zum Glück folgen wir nicht Caesars Weg nach Rom, sondern rollen die letzten Kilometer bis zum Hotel Lungomare. Mit diesem Lächeln, das er den ganzen Tag im Gesicht hatte, verabschiedet sich Manuel und macht sich auf den Weg nach Hause. Ich mache mich auf zum After-Ride-Büfett. Die Würfel sind gefallen.
Auf den Spuren des Piraten – Die Touren
Tour 1: Passkontrolle in San Marino
Tour 2: Nove Colli
Tour 3: Soglianos Serpentinen
Tour 4: Zur Festung von Bertinoro
Erleben
Granfondo Nove Coli
Der Höhepunkt des Radsportjahres ist ganz klar der Ende Mai stattfindende Granfondo Nove Colli. Ausgerichtet vom Radverein Fausto Coppi, gilt er als Mutter aller Radmarathons. Neben der langen 200-Kilometer-Runde mit ihren fast 4000 Höhenmetern gibt es zwei kürzere Versionen mit 130 Kilometern und knapp 2000 Höhenmetern sowie 60 Kilometern mit 650 Höhenmetern. Da die 12 000 Startplätze meist innerhalb weniger Minuten vergeben sind, sollten sich Interessierte jetzt schon den 18. Oktober 2023 vormerken. Dann beginnt die Registrierungsphase für 2024.
Das Pantani-Museum
Nicht nur ein Denkmal, auch ein Museum zu Ehren von Marco Pantani findet sich in Cesenatico. In dem "Spazio Pantani" erinnern zahlreiche Fotos, Videos und Andenken an den Sieger von Tour de France und Giro d’Italia. Darunter sind Rennräder, Trikots, dazu jede Menge Pokale, die "Il Pirata" während seiner Karriere gewonnen hat. Und natürlich dürfen auch seine berühmten Kopftücher nicht fehlen.

Ave! Am Rubikon erinnert ein Denkmal an Julius Caesar.
Entdecken
Fakten
Cesenatico liegt am östlichen Rand der norditalienischen Region Emilia-Romagna. Dank der Lage direkt an der Adriaküste ist das 25 000-Einwohner-Städtchen speziell im Sommer ein beliebtes Urlaubsziel. Abseits der Sommerferien jedoch zeigt sich die Stadt als perfekte Basis für feinste Rennradtouren. Das wusste nicht nur Marco Pantani. Der 2004 verstorbene, nicht ganz unumstrittene Radprofi zählt zu den bekanntesten Kindern der Stadt. Davon zeugt auch das Denkmal für ihn. Nicht zuletzt Pantani zu Ehren startete und endete am 15. Oktober 2020 auch die 12. Etappe des Giro d’Italia in Cesenatico.
Beste Rennradzeit
Locals wie Ex-Profi Manuel Senni sind rund um Cesenatico das ganze Jahr über auf dem Rennrad im Einsatz. Wirklich angenehm ist es aber vor allem in der Zeit von März bis Juni und dann wieder von September bis November. Speziell, wenn es rauf in die Berge geht.
Anreise
Bahn: Ab Frankfurt/Main geht es mit Umstiegen in Mailand und Bologna in 11:38 Stunden bis Cesenatico. Auto: Ab Frankfurt/Main dauert die Fahrt für die rund 1000 Kilometer über die Schweiz und Mailand etwa elf Stunden. Es fallen Kosten für Maut und Vignette an. Flugzeug: Der rund 80 Kilometer von Cesenatico entfernt gelegene Flughafen Bologna wird ab Berlin, Frankfurt/Main, Köln/Bonn, Düsseldorf, München und Nürnberg angeflogen.
Unterkunft
Bike Hotel Lungomare / Das Vier-Sterne-Hotel, in dem auch ROADBIKE-Autor Alain Rumpf für diese Reportage untergekommen ist, liegt nicht nur direkt am Meer. Es bietet auch alles, was sich Radsportler wünschen: vom Radkeller über hochwertige Leihräder von Pinarello bis zur auf Radsportler zugeschnittenen Küche. Auch Riegel und mehr für unterwegs sind erhältlich. Highlight sind aber die zahllosen Tourenvorschläge sowie die geführten Rennradtouren durch die Region.
Essen und Trinken
Piadineria da Gilly / Die kleine Piadineria liegt einen Steinwurf vom Hotel Lungomare in Cesenatico entfernt. Hier wird man freundlich bedient und mit großartigen Piadinas verwöhnt, den für die Region typischen Teigtaschen.
Maré / Die schicke Bar auf dem Pier von Cesenatico bietet tolle Drinks bei entspannter Musik. Highlight ist das Dinner bei Kerzenschein am Strand. mareconlaccento.it
Ristorante Giorgio / Typisch italienisch ausgehen: In dem zentral in Cesenatico gelegenen Restaurant stehen Pizza, Pasta, Fisch und Meeresfrüchte hoch im Kurs. ristorantegiorgio.net
Lust auf weitere Ideen für einen Rennradurlaub? Dann ist unser Bericht zum Ötztal vielleicht etwas für dich.