Hitze flimmert über dem Asphalt. 14 Prozent Steigung. 15 Prozent, 16. Nicht nur ein kurzes Stück, sondern kilometerlang. Der Riedbergpass ist unerbittlich. Vor mir, so weit das Auge die Passstraße hinaufreicht: Rennradfahrerinnen und -fahrer. Hinter mir: ebenfalls. Und auch neben mir. Ich höre stoßweises Atmen. Ratternde Ketten. Fluchen. Aber auch: lautstarke Anfeuerungsrufe von vielen Zuschauerinnen und Zuschauern, Freunden, der Familie am Streckenrand. Zugegeben, wir fahren nicht gerade durch ein so enges Menschenspalier wie die Radprofis in Alpe d’Huez. Aber für ein Hobbyrennen ist die Hölle los. Und die Unterstützung hilft, den Berg zu bezwingen. Der Riedbergpass ist der Scharfrichter beim Rad Race One Twenty, einem neuen Jedermann-/-fraurennen im Allgäu. Mit einem neuen Ansatz, einem neuen Sound, einem neuen Rennmodus – man fährt im Team, mindestens zu dritt. Etwa fünfzig Meter vor mir fährt Hohli im ROADBIKE-Trikot. Aber: Wo ist Thomas?

Die steilen Rampen des Riedbergpasses zwangen alle Teilnehmenden aus dem Sattel.
24 Stunden zuvor: Hohli, Thomas und ich stehen auf einer Startrampe. Bergzeitfahren. Genauer gesagt: Mannschaftsbergzeitfahren. Diese Disziplin gab es wohl selbst bei der Tour de France noch nicht. Vier Kilometer, knapp 400 Höhenmeter – hier heißt es: leiden. Ausgeheckt haben das Konzept Marlon Wörndl und Ingo Engelhardt. Marlon ist bei der Agentur 808 Project Organisationschef für den Allgäu Triathlon, Ingo Geschäftsführer des Namensgebers Rad Race, der auch für manches Fixie-Kriterium, ein 96-Stunden-Gravelrennen und die mehrtägige Alpentour Tour de Friends verantwortlich zeichnet.

Beim Start zum Mannschaftsbergzeitfahren am ersten Tag des Rad Race One Twenty.
Das Rad Race One Twenty ist das erste Straßenrennen der Crew – und soll zu einem der größten Jedermann-/-fraurennen in Deutschland werden (siehe Interview am Ende des Artikels). Erklärtes Ziel: das nach Wahrnehmung von Engelhardt verstaubte Image vieler Radsportevents zu überwinden. Laut sein, wild, unangepasst. Finisher-Medaille oder -Trikot, Plastikstarterbeutel oder RTF-Punkte gibt’s nicht, statt "Final Countdown" wummern laute Bässe, Hip-Hop und Punkrock aus den Boxen, mit den Teilnehmenden kommuniziert Engelhardt direkt per WhatsApp-Gruppe. Das Konzept mit Dreier-Team soll den Renncharakter verändern – alle sind gezwungen, sich eine Strategie zurechtzulegen. Denn erst die Zeit des Dritten zählt, eine Einzelwertung gibt’s nicht. Der daraus erwachsende Team-Spirit soll durch die Tage im Allgäu tragen, denn das Event beschränkt sich nicht auf die beiden Wettkampftage am Wochenende mit Bergzeitfahren und Straßenrennen – das Eventgelände mit Bike-Expo und Camping-Areal öffnet schon donnerstags, gemeinsame Ausfahrten und abendliche Partys stehen auf dem Programm. Wer jünger ist als 27, zahlt deutlich weniger Startgeld. Folge: sehr viele junge Leute, sehr viele Teilnehmerinnen, Zeltlager-Atmosphäre.

Rad Race One Twenty 2023: 126 Kilometer, 2230 Höhenmeter: Nach dem Start in Sonthofen führte die Strecke über Oberstaufen nach Österreich. Die anschließende Passage durch das Rohrmoostal wurde zwei Mal befahren – die schmale Straße ist grundsätzlich für den Autoverkehr gesperrt und ein heißer Tipp für Allgäu-Reisende! Der Riedbergpass – Deutschlands höchste Passstraße – ist mit knapp zehn Prozent Durchschnittssteigung unangenehm steil. Finale Grande: der steile Schlussanstieg zur Hörnerbahn in Bolsterlang. Die Anmeldung für die 2024er-Austragung startet am 14. September 2023.
Sonthofen im Oberallgäu zeigt sich passenderweise von seiner besten Seite: Nach einem verregneten Frühjahr scheint gefühlt nun erstmals bei angenehmen Temperaturen die Sonne, sattgrüne Wiesen, dunkle Wälder und schneebedeckte Berge stellen die beeindruckende Kulisse. Und: Organisatorisch ruckelt es für eine Erstaustragung erstaunlich wenig, selbst die komplizierte Herausforderung, die Straßen in gleich zwei Ländern sicher abzusperren, gelingt (siehe Strecke).

Ein schmales Asphaltband, majestätische Berge, eine Startnummer auf dem Rücken, ein Rennrad unterm Hintern - das sind die Zutaten für wunderbare Erlebnisse.
Beim Bergzeitfahren sitzt auf halber Strecke gar eine Blaskapelle am Wegesrand und macht den Teilnehmenden in Lederhose und Seppelhut Beine. Bei der Auffahrt kriege ich das gar nicht mit – entgegen allen guten Vorsätzen gehe ich in den tiefroten Bereich. Schnell bin ich trotzdem nicht, dafür sind teamintern die Hierarchien geklärt: Thomas – als Ersatz für den gesundheitsbedingt verhinderten Redaktionskollegen Christian kurzfristig ins ROADBIKE-Team gerutscht – ist am Berg mit Abstand der Schnellste von uns und kriegt früh grünes Licht, nicht warten zu müssen. Hohli könnte schneller, zieht mich aber so gut es geht, und ich versuche, dem Team keine Schande zu machen, muss dafür aber alles geben.

Team ROADBIKE (bzw. ein Teil davon) im Feld auf der Rohrmoos-Runde.
Anschließend ein Rundgang über das gut besuchte Expo-Gelände, wo große Marken wie Canyon, Gore, Oakley, Abus oder DT Swiss, aber auch kleinere Anbieter wie Bekleidungshersteller Endless Local, Ernährungsspezialist Maurten oder Radreiseveranstalter Gruppetto Allgäu ihre Produkte und Dienstleistungen vorstellen. Auf der Bühne werden die Schnellsten geehrt, beim Race-Briefing gibt’s letzte Informationen und Sicherheitshinweise für das Straßenrennen. Auf einer Großbildleinwand wechseln sich schnell geschnittene Videos und Werbebotschaften ab, am nächsten Tag wird hier das Rennen live übertragen – Angehörige und Fans können selbiges sogar zu Hause via YouTube-Livestream verfolgen.
Bei einer riesigen Pizza legen wir unsere Renntaktik zurecht: Thomas, der noch nie bei einem Rennen gestartet ist, will sich erst einmal in Ruhe im Peloton orientieren, Hohli und ich sollen nicht warten – früher oder später, so das Kalkül, wird Thomas am Berg zu uns aufschließen.

Schnelle Hatz zu früher Stunde: Beim Rad Race One Twenty ging's um 6.45 Uhr los.
Nach einer kurzen Nacht warten wir Sonntagfrüh zu nachtschlafender Zeit inmitten von über 2000 Gleichgesinnten in Sonthofen auf den Startschuss. Nervöses Gezerre an Reißverschlüssen, nochmal kurz Pipi, kleine Scherze, die die Aufregung kaschieren sollen … Dann ein Knall, ohrenbetäubende Bässe – und das Peloton ist auf der Strecke. Wie vermutet verschwindet Thomas rasch aus unserem Blickfeld, Hohli und ich geben uns im Windschatten dem Geschwindigkeitsrausch hin. So manche zu schnelle Gruppe lassen wir aber ziehen, denn der Weg ist weit und voller Höhenmeter. Erfreulich: Zumindest in unserem Umfeld fahren alle auffällig gesittet, Stürze sehen wir nicht. Entlang des Alpsees bei Immenstadt geht es in schneller Fahrt nach Oberstaufen, nach kurvenreicher Abfahrt und einem nicht ganz ernst gemeinten Ortsschildsprint warten die ersten Anstiege. Wir klettern zügig, behalten die Wattzahlen aber im Auge, um nicht zu überpacen. Und dann stellt sich allerdings die Frage: Wo ist Thomas?
Landschaftlich ist das schmale Sträßchen zwischen dem österreichischen Ort Sibratsgfäll und dem deutschen Tiefenbach ein Highlight des Tages: Mit Blick auf Weiden, Wälder und Felswände geht’s teils kräftig bergan zum Rohrmoossattel – Allgäu at its best! Doch wo ist, wo bleibt Thomas?

Im schönen Allgäu auf der Rohrmoosrunde, die zwei Mal gefahren wurde.
In Tiefenbach und Obermaiselstein feuern Anwohner und Urlauber lautstark das in viele kleine Gruppen zerfallene Peloton an, am Riedbergpass wird es dann ernst. Dank sehr zurückhaltender Renneinteilung und kleinen Gängen läuft es bei mir aber deutlich besser als tags zuvor beim Bergzeitfahren: Während viele dafür büßen, auf den ersten 75 Kilometern zu schnell gefahren zu sein, pedaliere ich flüssig den Berg hinauf und Hohli guckt verdutzt, als ich kurz vor der Passhöhe wieder zu ihm aufschließe. Nur: Wo ist Thomas?
In rasender Abfahrt jagen wir ins Tal und via Balderschwang ein zweites Mal auf die Rohrmoos-Runde. Am Rohrmoossattel kämpfe ich, um an Hohli und der Gruppe dranzubleiben. Das klappt zwar, aber auf dem folgenden welligen Flachstück zieht Hohli doch noch mit den stärksten aus unserer Gruppe davon und erreicht das Ziel einige Minuten vor mir. Der bittersüße Schlusspunkt: Zum Zielstrich an der Hörnerbahn in Bolsterlang müssen wir eine 500 Meter lange, bis zu 13 Prozent steile Rampe erklimmen. Wer bis hierhin noch nicht auf die Zähne beißen musste, tut es spätestens jetzt.

Am Schlussanstieg sorgten überraschend viele Zuschauerinnen und Zuschauer für Stimmung und erleichterten den Teilnehmenden die letzte Anstrengung vor dem Zielstrich.
Doch auch hier helfen die Anfeuerungsrufe der zahlreichen Zuschauer. Schnell finde ich Hohli, gemeinsam stürzen wir uns auf die in rauen Mengen bereitstehenden Getränke und fragen uns jedoch zunehmend beunruhigt: Wo ist Thomas? Des Rätsels Lösung folgt 25 Minuten später, als Thomas endlich die Ziellinie überquert: Noch auf den ersten, neutralisierten Rennkilometern in Sonthofen hatte unser dritter Mann nach Begegnung mit einem Schlagloch einen Durchschlag am Hinterrad. Aller Hilfe durch Besen- und Materialwagen zum Trotz: Als Thomas endlich weiterfahren kann, ist weit und breit kein Radrennen mehr zu sehen. "Ich bin hinterhergestiefelt, so schnell es ging – als ich nach zwei Stunden endlich die ersten anderen Rennfahrerinnen und -fahrer eingeholt habe, hätte ich heulen können vor Glück", berichtet Thomas. Umso erstaunlicher, wie weit er sich noch nach vorne gekämpft hat! Wir grinsen und klatschen ab.

Allein auf weiter Flur: Nach einem frühen Defekt muss Thomas alleine dem Feld hinterherfahren - und platziert sich dennoch ungefähr in der Mitte der 2000 Teilnehmenden.
Dann rollen wir zurück zum Eventgelände: Überall stehen, sitzen oder liegen Rennradfahrerinnen und -fahrer und füllen mit Nudeln oder lokalen Spezialitäten die leer gefahrenen Energiespeicher wieder auf, gönnen sich das ein oder andere Kaltgetränk und erzählen wieder und wieder von ihren Erlebnissen. Auch wir tauchen ein in die Menge – und können uns gut vorstellen, dass der Erstauflage des Rad Race One Twenty noch viele weitere Austragungen folgen werden.

Partystimmung am Zielstrich, bei der Siegerehrung, auf dem Camping-Areal und der Expo – beim Rad Race One Twenty am gefühlt ersten warmen Wochenende des Jahres 2023 passte vieles zusammen. |
Interview mit Ingo Engelhardt: "Wir bleiben laut"
Ingo Engelhardt: Wir sind megahappy, das Adrenalinlevel war nach dem Event noch sehr lang sehr hoch! In zwanzig Jahren Event-Orga habe ich noch nie so viel positives Feedback für eine Veranstaltung gehört. Tausend Dank an dieser Stelle an alle Mitstreiter und Partner, vor allem 808 Project, Sonthofen und die ganze Region Allgäu! Alle hatten Bock, vieles hat auf Anhieb funktioniert, die Vibes waren gut. Aber wir hatten natürlich auch Riesenglück mit dem Wetter.

Ingo Engelhardt, Geschäftsführer von Rad Race (ganz links im pinken T-Shirt), bei der Siegerehrung.
Das war vermutlich der größte Schreckmoment des Wochenendes. Ein Teilnehmer ist gestürzt und hat sich die Schulter gebrochen. Aber selbst der hat mir später am Telefon erzählt: "Das war ein geiles Event, ich will unbedingt wieder starten!" Wir sind alle froh, dass da nicht mehr passiert ist. Insgesamt hat es für ein Event dieser Größenordnung selten gescheppert.
Organisatorisch die Vollsperrung in zwei Ländern – wer hat das schon? Was das Peloton angeht: das Durchschnittsalter um die 30 und der Frauenanteil von 20 Prozent – das ist viel jünger bzw. viel mehr als bei anderen Events. Und für die Hälfte von denen, mit denen ich geredet habe, war es das erste Radrennen ihres Lebens. Das finde ich ziemlich klasse!
Es gab Kritik, dass die Cut-off-Zeit zu knapp bemessen war. Wer’s langsamer hat angehen lassen, hatte schnell den Besenwagen im Nacken oder musste gar raus. Und am Ziel an der Hörnerbahn wären Bierbänke, Tische und Musik sicher gut gewesen – wir wollten die Leute eher schnell zurück aufs Festivalgelände bringen, und da waren ja später auch wieder alle, aber scheinbar wollten die erst mal vor Ort durchatmen und chillen, und das hätten wir ein bisschen gemütlicher gestalten können.

Der Zielbereich des Rad Race One Twenty an der Hörnerbahn in Bolsterlang.
Unser klares Ziel ist es, das noch mal zu machen und das Event langfristig zu etablieren. Darauf haben auch alle Partner Bock. Wir führen schon die ersten Gespräche, haben mit der Budgetplanung begonnen – wir melden uns, wenn es konkret wird. Apropos: ROADBIKE war das erste Medium, das damals die Pressemeldung zur Erstaustragung aufgegriffen, berichtet und uns interviewt hat. Das war für uns ganz besonders, weil klar war: Jetzt gibt es kein Zurück mehr, the shit gets real!
Wir denken über einen etwas späteren, wettertechnisch sicheren Termin nach. Vielleicht drehen wir auch was an der Strecke – das Allgäu hat viel zu bieten. Und ich persönlich fände es stark, wenn das Bergzeitfahren direkt am Festivalgelände starten würde. Was wir sicher nicht ändern werden, ist unser Style: Es wird weiter coole Mucke laufen, wir werden weiter Unfug reden und Pyrotechnik abfackeln. Manche finden das klasse, anderen ist es zu laut. Das ist okay, wir wollen es nicht allen recht machen, und andere Eventkonzepte haben auch ihre Daseinsberechtigung. Natürlich wollen wir wachsen, und ich bin überzeugt, die Leute, die Region, die Infrastruktur geben das her – wahrscheinlich hätten wir schon dieses Jahr doppelt so viele Startplätze vollgekriegt. Die Herausforderung wird sein, bei mehr Teilnehmern die coole und persönliche Atmosphäre zu wahren. Wir tun unser Bestes!
Anmerkung der Redaktion, 14.09.2023: 2024 findet das Rad Race One Twenty am 15. und 16. Juni statt. Nach einem Bergzeitfahren am Samstag wird der Riedbergpass erneut Teil der Strecke des Straßenrennens am Sonntag sein. Unverändert bleibt auch das Rennformat als Team Event mit mindestens drei Starterinnen oder Startern pro Team. Wer unter 27 Jahre alt ist, zahlt weniger Startgekd. Die Anmeldung für die 2024er Austragung des Rad Race One Twenty beginnt am 21. September 2023 unter www.rad-race.com.

Das Rad Race One Twenty will laut und wild bleiben - so wie hier am Zielstrich nach einer 13 Prozent-Rampe zur Hörnerbahn in Bolsterlang.