Individueller Rahmenbau
Unikat statt Stangenware: Der Traum vom Maßrahmen

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Der Rahmen ist das Herzstück jedes Rennrades, ein auf Maß gebautes Einzelstück für viele Rennradler ein Lebenstraum. Ein Traum, der längst kein Vermögen mehr kosten muss. ROADBIKE beleuchtet die Faszination Maßrahmen – und stellt drei Exemplare vor.

Unikat statt Stangenware: Der Traum vom Maßrahmen
Foto: Martin Schlüter

Warum ein Maßrahmen, was macht die Faszination aus?

Wie der Name schon sagt: Ein Maßrahmen wird auf Maß gebaut – im engen Austausch zwischen Hersteller und Kunde. Sprich: Nur der spätere Fahrer und dessen individuelle Vorlieben und Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt – die Geometrie passt im Idealfall wie angegossen, über Rohrformen, Design und Lackierung bestimmt niemand anders als der spätere Besitzer. Selbst kleinste Details sind frei wähl- und konfigurierbar – etwa die Zugführung, der Steuer- und Tretlagerstandard sowie die Position und Anzahl von Flaschenhalterschrauben und Gewindeösen. Sprich: Wer sich für einen Maßrahmen entscheidet, erhält ein auf sich zugeschnittenes Unikat – und kein anonymes Massenprodukt von der Stange.

Martin Schlüter
Rahmenbau ist Handwerk - hier bei Norwid.

Für wen eignet sich ein Maßrahmen?

Klar, wer besonders groß oder klein ist oder über ungewöhnliche Körperproportionen verfügt, wird mit einem auf diese Besonderheiten angepassten Rahmen vermutlich glücklicher werden als mit einem Standardprodukt. Auf anatomische Besonderheiten des Fahrers kann man mit einem Maßrahmen nicht "nur" über die Rahmengeometrie "passend" reagieren, sondern auch über entsprechend gewählte Rohrformen und/oder Wandstärken. Auch wer eine besondere Eigenschaft für das eigene Rennrad sucht, die es so auf dem Massenmarkt nicht gibt – Einsatzart, Ausstattung, Design –, kann mit einem Maßrahmen das Rad fürs Leben besser verwirklichen. Und natürlich spricht ein Maßrahmen all diejenigen Menschen an, die für das Flair von individuellen, handgefertigten Produkten empfänglich sind, die sich mit etwas Einzigartigem aus der Masse herausheben wollen oder auch jene, die gerne die Person persönlich kennenlernen möchten, die dieses einzigartige Rennrad gebaut hat.

Ist ein Maßrahmen das nachhaltigere Produkt?

In der gesamten Öko-Bilanz: mit Sicherheit ja. "In Deutschland und allgemein der EU wird unter strengeren Umweltauflagen und Arbeitsbedingungen produziert als in Fernost oder den USA", sagt Sven Krautscheid, Rahmenbauer aus Bochum, "zudem entstehen keine CO2-Emmissionen durch den Transport einmal rund um den Globus." Auch dürfte die emotionale Bindung an ein hochgradig personalisiertes Produkt größer sein – das Rad fürs Leben wird so lang gefahren wie möglich und nicht alle paar Jahre durch eine neue Mode ersetzt. Zudem wird esim Schadensfall, falls möglich, eher repariert als gleich weggeworfen. "Zumindest bei Stahlrahmen ist eine Reparatur fast immer möglich", betont Rahmenbauer Krautscheid, "zumal man durch den engen persönlichen Kontakt zum Hersteller schnell klären kann: Was ist passiert und warum, und wie kriegen wir es wieder hin? Und wenn gar nichts mehr geht, schmilzt man das Material wieder ein und verwertet es wieder."

Sven Krautscheid
Beispiel-Unikat 1 - Stahl. Der älteste aller Fahrradrahmenwerkstoffe muss nicht so klassisch interpretiert werden wie hier - aber so ist es auch besonders schön. Rahmen: Sven Krautscheid; Gabel: Stahl; Gruppe: Campagnolo Athena; Laufräder: Miche/Rigida klassisch eingespeicht; Reifen: Continental Grandprix Classic; Komponenten: Ritchey WCS Classic; Sattel: San Marco Concor; Preis: 3500 Euro.

Welches Rahmenmaterial ist am besten geeignet?

Maßrahmen gibt es in allen vier wichtigen Rahmenmaterialien: Carbon, Stahl, Aluminium, Titan. Eine pauschale Antwort, welcher Werkstoff sich am besten eignet, gibt es nicht – muss es auch nicht geben, da die Wahl des "richtigen" Rahmenmaterials immer von individuellen Vorlieben, dem Einsatzzweck und dem persönlichen Geldbeutel abhängt. Auch aus Sicht des Rahmenbauers gibt es nicht die eine allgemeingültige Antwort. Klar ist: Viele Anbieter spezialisieren sich auf ein Rahmenmaterial. Stahl bietet – dank unterschiedlichster Legierungs-, Wärmebehandlungs- und Schweißverfahren sowie Rohrformen und Wandstärken – sehr viel Gestaltungsfreiheit, allerdings sind die Rahmen in der Regel etwas schwerer – das oft kolportierte "Weichtreten" des Materials nach langer Nutzung ist hingegen ein Mythos. Titan ist potenziell unverwüstlich, aber aufwendig in der Verarbeitung, da es beim Schweißen nicht mit Sauerstoff in Berührung kommen darf. Aluminium ist vergleichsweise günstig, neigt aber auf lange Sicht eher zu Mikrorissen in der Legierung als die anderen Werkstoffe. Carbon wiederum unterscheidet sich allein dadurch von Stahl, Titan und Aluminium, dass es nicht aus bereits fertigen Rohren mit isotropen, sprich richtungsunabhängigen Materialeigenschaften zusammengefügt wird, sondern erst durch das Legen der Fasermatten zum fertigen Produkt wird. Dank ihrer richtungsabhängigen Materialeigenschaften (anisotrop) lassen sich Carbonfasern zudem mit Blick auf Steifigkeit, Gewicht und Komfort gezielt anordnen – was enorme Gestaltungsfreiheit ermöglicht, aber auch aufwendig und vergleichsweise teurer ist. Know-how zum Thema Rahmenmaterial findet Ihr auch hier.

Haider Knall/Haico
Passt im Idealfall wie angegossen: die individuelle Geometrie für den eigenen Maßrahmen.

Woher weiß ich, welche Geometrie ich brauche?

"Wir bitten unsere Kunden, ein Rad mitzubringen, mit dem sie besonders gut oder schlecht zurechtkommen – daran kann man schon viel ablesen", erklärt Christoph Lindner von einhorn bikes, einem Maßrahmenanbieter aus dem bayerischen Samerberg. "Die Geometrieerstellung läuft dann in drei Schritten ab: Zuerst erfassen wir alle relevanten Körperdaten, anschließend fragen wir ausführlich die Radfahr-Historie des Kunden ab, also wie und womit bisher gefahren wurde, und dann wird intensiv darüber gesprochen, was geplant ist und welchen Zweck das neue Rad erfüllen soll. Aus all dem entsteht ein erster Geometrie-Entwurf." Ähnlich läuft es bei Sven Krautscheid in Bochum ab, wo die Sitzposition auf einem justierbaren Ergometer auch gleich Probe gefahren werden kann – Videoanalyse der Tretbewegung und Satteldruckmessung inklusive. "Wir verändern hier mal was, da mal was und nähern uns sukzessive der finalen Geometrie", erklärt Krautscheid. "So ein Findungsprozess kann schon mal ein paar Wochen dauern." Natürlich kann man sich auch vom Bikefitter vermessen und eine Geometrie erstellen lassen – manche Rahmenbauer kooperieren dazu mit entsprechenden Anbietern. Know-how zum Thema Rennradgeometrie findet Ihr auch hier.

Christian Tharovsky
Beispiel-Unikat 2 - Carbon: Rahmen: einhorn bikes; Gabel: Columbus Futura; Gruppe: Campagnolo Record Disc; Laufräder: Reynolds AR41db Carbon; Reifen: Vittoria Corsa Control G+; Komponenten: Deda Elementi; Sattel: Fizik Ardea; Preis: 8500 Euro.

Ist ein Maßrahmen nicht sehr teuer?

Zugegeben, Schnäppchenjäger werden nicht zwingend beim Rahmenbauer mit ihrer Suche beginnen. Aber: Bei einhorn bikes geht es ab 3500 Euro für ein maßgefertigtes Komplettrennrad mit Alu-Rahmen los, bei Sven Krautscheid kostet ein kompletter Stahlrenner auf Maß ab 3000 Euro – im Schnitt geben seine Kunden 4200 Euro für ihre Traumräder aus. Andere Hersteller starten bei ähnlichen Preisen, nach oben gibt es naturgemäß keine Grenze. Natürlich ist das eine Menge Geld – aber durchaus in einem Bereich, den die ROADBIKE-Leser laut jüngster Umfrage für ihr nächstes Rennrad auszugeben bereit sind. Und immer noch deutlich weniger als die oft fünfstelligen Preise, die viele Hersteller inzwischen für ihre Top-Modelle aufrufen (können) oder die vielen Tausend Euro, die so manches Rahmen-Set von der Stange mittlerweile kostet ...

Bietet ein Maßrahmen womöglich auch Nachteile?

Von einem Maßrahmen darf niemand die Aerodynamikwerte eines aufwendig in Tausenden von Computermodellen und Windkanaltests entwickelten Aero-Boliden erwarten. Und: Auch wenn sich viele Maßrahmen mit ihren Messwerten nicht verstecken müssen (vgl. RB 01/19), können individuell gestaltete Sets je nach Rahmenwerkstoff womöglich nicht mit dem Dämpfungskomfort oder Gewichts-Steifigkeits-Verhältnis von modernen Carbon-Rahmen mithalten. Wer ambitioniert Rennen fährt, sollte deshalb für sich abwägen: lieber "nur" ordentliche Messwerte, dafür aber eine perfekt an die eigene Anatomie, Tretbewegung und Kraftübertragung angepasste Rahmengeometrie, oder ein auf maximale Performance ausgelegtes Rahmen-Set, das dafür mit Standardgeometrie auskommen muss?

Det Göckeritz
Beispiel-Unikat 3 - Titan: Rahmen: Rewel; Gabel: Easton Carbon; Gruppe: Campagnolo Chorus; Laufräder: DT Swiss PR 1400 Dicut Oxic; Reifen: Continental Grandprix Classic; Komponenten: Ritchey WCS Classic; Sattel: Ritchey; Preis: ca. 4500 Euro.

Wartet man da nicht ewig auf seinen Rahmen?

Natürlich dauert der gesamte Kaufprozess bei einem Maßrahmen vom ersten Gespräch über Geometrieentwicklung und Bestellung bis hin zu Produktion und Lieferung lang – mitunter Monate. Aber: Hohe Geschwindigkeit und unmittelbare Verfügbarkeit entspricht auch gar nicht der Philosophie eines Maßrahmens, hier gilt eher: Gut Ding will Weile haben. "Die Wartezeit ist für viele unserer Kunden ein bisschen so wie früher aufs Christkind zu warten", ist sich Christoph Lindner von einhorn bikes sicher, "Ungeduld und Vorfreude mischen sich, und wir unterstützen dies mit regelmäßigen Updates und Fotos vom rohen Rahmen oder eingetroffenen Komponenten." Je nach Werkstoff, Saison und Auslastung wartet man bei einhorn bikes nach Geometriebestätigung bis zu 20 Wochen auf den eigenen Traumrenner. Aber: Auch nicht jedes Massenprodukt ist sofort verfügbar.

Kann ich meinen Maßrahmen vielleicht sogar selbst bauen?

Enger kann eine emotionale Bindung an ein Rennrad wohl nicht sein, als bei einem Rahmen, den man mit eigenen Händen gebaut hat. Vor allem für den Werkstoff Stahl, aber auch für Carbon und Bambus machen dies mittlerweile einige Hersteller möglich und bieten Rahmenbaukurse an, die zwischen einem Tag und einer Woche dauern. Kostenpunkt inklusive Material: ab 600 bis knapp 3000 Euro. Teilnehmer längen dabei unter anderem ihre Rahmenrohre selbst ab, schneiden und feilen sie zurecht, um letztlich – Höhepunkt der Kurse – zu schweißen, löten oder flechten. Räumlichkeiten, Werkzeug und Anleitung bietet der professionelle Rahmenbauer, der auch zeitraubende Vor- und Nacharbeiten übernimmt. Ein Traum für alle, die das ganz Besondere suchen ...

Auswahl an Maßrahmenanbieter mit Option, selbst zu bauen:

  • Le Canard, Bochum (Stahl)
  • Big Forest Frameworks, Potsdam (Stahl)
  • Portus Cycles, Pforzheim (Stahl)
  • SeLi Rahmenbau, Dörrenbach/Pfalz (Stahl)
  • EigenbauBike, Wien (Carbon, Bambus)

Wer bietet überhaupt Maßrahmen an?

Individueller Rahmenbau erfreut sich wachsender Beliebtheit. Eine Auswahl an Anbietern, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Agresti, Offenbach (Stahl, Aluminium, Titan)
  • Cubetto, Regenstauf bei Regensburg (Stahl)
  • Fern, Berlin (Stahl)
  • Festka, Prag/Tschechien (Carbon)
  • Haico, Ammerbuch (Titan)
  • Kocmo, Stahnsdorf bei Berlin (Titan)
  • Krömer, Frankfurt (Stahl)
  • Maferro, München (Stahl)
  • Mawis, Kleinblittersdorf bei Saarbrücken (Titan)
  • Meerglas, Groß Lubau bei Wittenberge (Stahl)
  • Milanetti, Frankfurt (Stahl, Alu, Carbon)
  • Nevi, Bergamo/Italien (Titan)
  • Norwid, Neuendorf bei Elmshorn (Stahl)
  • Parlee, Beverly/USA (Carbon)
  • Titici, Asola/Italien (Carbon, Aluminium)
  • Tommasini, Grosseto/Italien (Stahl, Aluminium, Titan)
  • Uwe Marschall, Möhnesee/Sauerland (Stahl)
  • Vigmos, Leipzig (Titan)
  • Wheeldan, Berlin (Titan)
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04 / 2023

Erscheinungsdatum 17.03.2023