Ehrfürchtig wandert mein Blick die schwindelerregende Steilwand empor – Serpentine um Serpentine windet sich die Straße hinauf zur Passhöhe des Stilfser Jochs, unerbittlich, steil, in praller Sonne und dünner Luft. Noch 600 Höhenmeter, sechseinhalb Kilometer. Noch 22 von 48 Kehren. Die Straße ist fest in der Hand Tausender Rennradfahrerinnen und -fahrer, die wie ich teilnehmen beim Dreiländergiro. Und denen es vermutlich ähnlich geht wie mir: Begeisterung. Erschöpfung. Selbstzweifel. Mut. Ein Fahrzeug des Veranstalters fährt vorbei, aus dem zwei junge Männer für die Rennberichterstattung filmen, fotografieren, Interviews führen. Endlich die Passhöhe. Stolz. Schmerz. Gänsehaut. Ein Helfer in Neon-Weste leitet uns über die Zeitmessmatte. An der Labestation werden unsere Flaschen gefüllt, Verpflegung gereicht. Mir dämmert: Ohne die helfenden Hände ginge hier gar nichts.

ROADBIKE-Redakteur Moritz Pfeiffer im Anstieg zum Stilfser Joch während des Dreiländergiros 2023
Ein Telefonat im Januar. Noch fünf Monate bis zum Event. Organisationschefin Viktoria "Vikky" Mall und Marketingchef Christoph Moritz erzählen, was es bedeutet, einen Radmarathon zu veranstalten. 2018 haben die beiden die Organisation übernommen, unter anderem von Vikkys Vater. "Wir sprechen von einem der größten Radmarathons in Europa, mit 3000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, über den zweithöchsten Pass der Alpen, durch drei Länder", beschreibt Vikky die Dimensionen und wirkt für einen Augenblick selbst beeindruckt. Mit Geduld und Spucke, dem Know-how ihrer Vorgänger, eigenem Innovationsgeist und auch manchem schmerzhaften "Learning" haben die beiden den Dreiländergiro umgekrempelt. Vor allem: professionalisiert.
Jung, frisch, nachhaltig
Dazu gehört, dass sich Vikky und Christoph ein Team aufgebaut haben, das für die Arbeit am Dreiländergiro auch Honorare und Aufwandsentschädigungen bekommt. "Rein ehrenamtlich ist so etwas nicht mehr möglich", sagt Vikky, die einen Monat vor dem Dreiländergiro ihr Psychologiestudium abgeschlossen hat. Christoph – eigentlich Unternehmensberater – ergänzt: "Uns war wichtig, dass das Event eigenverantwortlich, gemeinnützig, nichtkommerziell bleibt – und nicht von einer Agentur übernommen wird."

Fünf von über 500 Möglichmacherinnen und Möglichmachern beim Dreiländergiro: Das Kern-Organisationsteam mit Christoph M., Natascha, Luna, Vikky und Jana - aus dem engsten Organisationszirkel fehlt auf dem Foto Strecken- und Sicherheitschef Christoph H., der zum Zeitpunkt der Aufnahme im Helikopter über dem Peloton kreist.
Mit dabei im jungen Orga-Team: Christoph Hugl, der auch bei den UCI-Radweltmeisterschaften in Innsbruck 2018 und Australien 2022 für die Streckensicherheit sorgte und 2023 in Glasgow sorgen wird. Studentin Jana, die den Einsatz der Ehrenamtlichen koordiniert und zwei Tage nach dem Dreiländergiro ihre Bachelorprüfung ablegen muss. Luna, die ebenfalls studiert und das Festgelände mit Ausstellern, Bühnenprogramm und Museum des Dreiländergiros organisiert. Und Natascha, die Bankangestellte, die sich unter anderem um Finanzen und Buchhaltung kümmert.

Bevor die erste Startnummer verteilt werden kann, gehen Monate der Vorbereitung ins Land - unter anderem mit regelmäßigen Videocalls des Kern-Organisationsteams.
Bevor in Nauders am Reschenpass die erste Startnummer verteilt werden kann, liegt eine Menge Arbeit vor den sechs Mitgliedern des Kernteams. "Der Dreiländergiro, das sind 365 Tage Arbeit im Jahr", sagt Christoph Moritz. Da wären zum Beispiel die behördlichen Genehmigungen, um mit 3000 Teilnehmern durch drei Länder zu fahren – wobei jedes Land eigene Regeln hat. In Graubünden in der Schweiz gilt zum Beispiel ein Teilnehmerlimit von 1500 – schwierig, wenn man mit 3000 Menschen den Umbrailpass runterkommt. "Unser Draht zu den Behörden ist gut", sagt Vikky Mall, "mit Graubünden haben wir den Kompromiss, dass zwar alle den Umbrail runterfahren, die Strecken aber gleich unten in Santa Maria in entgegengesetzter Fahrtrichtung getrennt werden."

Die Abfahrt vom Umbrailpass während des Dreiländergiros 2023
Andere Auflagen macht sich das Kernteam selbst: Der Dreiländergiro soll gemeinnützig sein, familiär, nachhaltig. Bereits zum zweiten Mal nach 2022 hat man sich als Green Event zertifizieren lassen, man schließt Verträge ausschließlich mit grünen Partnern und Sponsoren, setzt auf regionale und bio-zertifizierte Produkte bei der Verpflegung, Mehrwegbecher an den Labestationen sowie nachhaltig produzierte Finisher-Trikots. Alles getreu dem Claim des Events: "Wir lieben die Natur, die Berge und den Radsport."

Morgens um 6.30 Uhr erfolgt in Nauders der Start zum Dreiländergiro.
Doch natürlich ist der Dreiländergiro für Nauders auch ein Wirtschaftsfaktor. "Früher war im Sommer wenig los", erinnert sich Harry Ploner, Besitzer des Alpen-Comfort Hotel Central mitten in Nauders, "der Dreiländergiro hat das geändert. Weitere Events kamen hinzu, allgemein wächst der Sommertourismus. Aber nach wie vor ist die Bettenauslastung im Sommer nie so hoch wie am Giro-Wochenende."
Viele Akteure ziehen an einem Strang, um aus dem Event einen Erfolg zu machen. "Wir arbeiten eng mit der Gemeinde, dem Tourismusbüro Nauders und den hiesigen Bergbahnen zusammen", zählt Vikky auf, "auch die Tourismusverbände Tirol, Südtirol und Engadin sind wichtige Player, die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg funktioniert."

Generationenübergreifend: Gerade mal fünf Jahre alt ist der jüngste ehrenamtliche Helfer beim Dreiländergiro 2023, 82 die Älteste.
Showtime
24 Stunden vor dem Event, Festgelände Nauders. "Zehn Minuten habe ich", sagt Christoph Moritz. Ein frommer Wunsch, denn in dieser Zeit klingelt immer wieder das Telefon, WhatsApp-Nachrichten verlangen mit schrillem Signalton, gelesen zu werden.

Nicht alle Tätigkeiten sind ehrenamtlich, manche Akteure - wie etwa der Moderator - oder Vereine erhalten Honorare oder Aufwandsentschädigungen.
"Die Tage um das Event sind der schiere Wahnsinn", sagt Vikky mit fröhlichem Lachen, aber tiefen Ringen unter den Augen. Aufstehen um 4.30 Uhr, Feierabend um Mitternacht. Die Arbeit von 500 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in drei Ländern will koordiniert werden – damit Brötchen geschmiert, Getränke verteilt, Startnummern geklebt oder Kreuzungen gesichert sind. Gerade mal fünf Jahre alt ist der jüngste Helfer, 82 die Älteste.

Ansturm: Erschöpfte und hungrige Radsportler können mit Nachdruck nach Essen verlangen - wie hier am Stilfser Joch beim Dreiländergiro 2023.
"Viele kennen wir persönlich, sind verwandt oder über drei Ecken bekannt", beschreibt Christoph Moritz das Zusammenhalten einer ganzen Region über Landesgrenzen hinweg. "Bei der Rekrutierung der Ehrenamtlichen gehen wir viel über die Vereine in den Dörfern." Sportvereine natürlich, aber auch Chöre, Musikkapellen, Schuhplattler- und andere Brauchtumsvereine sind am großen Tag dabei. Und natürlich die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren. "Wir zahlen Aufwandsentschädigungen für die Vereinskassen", sagt Vikky, ist sich aber sicher, "dass die auch ohne mithelfen würden."

Müde Rennradlerwaden wieder weich zu kneten, verlangt Kraft - gehört aber auch zu den Angeboten beim Dreiländergiro. Die Dienstleistung wird vom Orga-Team extern eingekauft.
"Es gibt einen starken Zusammenhalt in der Region. Hilft man heute dem einen, wird einem morgen selbst geholfen." Spricht’s und verschwindet, um auf der Bühne mit ihrem Team offiziell die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu begrüßen und den Ehrenkodex des Dreiländergiro zu erläutern: unter anderem Respekt, Umweltbewusstsein und verantwortungsvolles Handeln. Tausende Ohren auf der gerammelt vollen Festwiese lauschen den Ausführungen der jungen Menschen auf der Bühne, die all das auf die Beine gestellt haben.
Rück- und Ausblick
Ein Videocall, zwei Wochen nach dem Dreiländergiro. Vikky konnte sich ein paar Tage Urlaub gönnen, nachdem alles abgebaut war. Christoph hingegen muss aufarbeiten, was in den vergangenen Wochen im Hauptberuf liegengeblieben ist. "In einer Woche verdiene ich im Job mehr als in einem Jahr Dreiländergiro", erzählt er, "aber trotzdem, die Motivation ist bei 300 Prozent!" Der Erfolg rechtfertigt den betriebenen Aufwand: "Für 2023 waren wir schon im November ausgebucht, so früh wie noch nie", freut er sich. 3000 Rennradfahrerinnen und -fahrer aus 40 Nationen nahmen teil und brachten oft Begleitung mit, mehr als 12 000 Übernachtungen wurden gezählt. 30 000 Menschen sahen den Livestream des Events, der Anteil weiblicher Teilnehmerinnen steigt.

Auf der Festwiese zu Füßen von Schloss Naudersberg spielt sich beim Dreiländergiro - abgesehen vom Radfahren selbst - alles ab.
"Am Montagabend nach dem Abbau waren wir mausetot", erzählt Vikky. Das Kernteam hat nicht nur koordiniert, sondern auch selbst mit angepackt. Nun wird das Verbesserungspotenzial analysiert. "Die Engstelle bei der Zielverpflegung war nicht optimal", räumt Christoph ein, "wir wollten verhindern, dass sich Leute wie letztes Jahr fünf, sechs Mal anstellen und bedienen, leider sind so Wartezeiten entstanden." Insgesamt seien die Rückmeldungen aber positiv. "Wir werden oft mit dem Ötztaler Radmarathon verglichen, mit dessen Veranstaltern wir uns gut verstehen und im engen Austausch stehen", sagt Vikky, "wir werden alles tun, auch in Zukunft in dieser Liga wahrgenommen zu werden." Übrigens: Jana hat ihre Bachelorprüfung 48 Stunden nach dem Dreiländergiro mit 1,0 bestanden.

Es sind Erlebnisse wie diese Passage entlang des Haidersees mit Ortler im Hintergrund, die sich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Dreiländergiros tief ins Gedächtnis brennen - und die in Nauders wie auch bei anderen Radsportevents oft erst möglich werden durch die ehrenamtliche Arbeit hunderter Helferinnen und Helfer.
Über das Event
Seit seiner Erstaustragung 1989 hat sich der Dreiländergiro zu einem der bekanntesten Radmarathons in Europa entwickelt. Publikumsmagnet und Scharfrichter ist das 2757 Meter hohe Stilfser Joch – beide angebotenen Strecken führen über die legendären 48 Kehren und durch die Länder Österreich, Italien und Schweiz. Während die kürzere Runde über den Vinschgauer Radweg nach Nauders zurückführt, überquert die Langdistanz noch Ofenpass und Norbertshöhe. Das Event findet immer Ende Juni statt.
- Strecke Stelvio Vinschgau: 120 Kilometer, 3000 Höhenmeter
- Strecke Stelvio Engadin: 168 Kilometer, 3300 Höhenmeter
- www.dreilaendergiro.at

Streckenkarte des Dreiländergiro 2023: blaue Route = Stelvio Engadin über Reschenpass, Stilfser Joch, Ofenpass und Norbertshöhe; rote Route = Stelvio Vinschgau über Stilfser Joch und 2x Reschenpass