Das Ausrufezeichen steht ihm förmlich auf die Stirn geschrieben. Aufgeregt – fast schon euphorisch – kommt Michele gleich am Eingang des Campingplatzes "Valle Sante Maria" auf mich zugeschossen: "Ich hab einen ...!" Jetzt bin ich es, der sich wie ein großes Fragezeichen fühlt. Ich schaue meinen italienischen Freund an und versuche zu verstehen, was er mir mitteilen will. Da ich nicht sooo gerne Fisch esse, wird er mir wohl kaum seinen Fang zeigen wollen ...
"Ich hab einen Trail gefunden!", sprudelt es aus ihm heraus. So weit, so langweilig, könnte man meinen. Trails gibt’s auf Elba ja wie Sand am Mittelmeer. Mein Fragezeichen verschwindet jedoch blitzartig und meine Vorfreude lässt den Puls schlagartig nach oben schnellen. Ich weiß sofort, was er meint: Er hat endlich einen fahrbaren Trail vom Monte Capanne gefunden!
Der Secret Trail vom Monte Capanne

Elba ist nach Sizilien und Sardinien die drittgrößte Insel Italiens. Die übersichtliche, weil gerade mal 27 mal 18 Kilometer kleine Insel vor dem toskanischen Festland hat mit dem Monte Capanne jedoch einen nicht ganz kleinen Berg von 1019 Meter Höhe. Vom Gipfel genießt man einen einzigartigen Panoramablick auf viele Nachbarinseln wie Pianosa, Montecristo – und Korsika. Unzählige Male habe ich an diesem speziellen Berg Trails in alle Himmelsrichtungen ausprobiert und bin wegen des grob- und großsteinigen Untergrunds stets kläglich gescheitert. "Nicht fahrbar" wäre hier noch untertrieben, ich musste größtenteils mein Bike auch bergab tragen.
Nun also hat Michele einen gefunden! Michele, mein Freund aus Elba, der mir seit Jahr und Tag die besten Inseltrails zeigt. Die Vielfalt Elbas ist enorm: Gerade im Westen der Insel rund um den Monte Capanne gibt es jede Menge spektakulärer Wege inmitten von Granitfelsen. Die Trails zirkeln oft um weiße, vom Wind zu skurrilen Plastiken geformte Felsformationen herum und bieten so einzigartigen Abfahrtsspaß. Auch die Restinsel bietet eine hohe Traildichte. Auf der Halbinsel Calamita sind die Wege meist mit feinem Kies übersät, in den Pinienwäldern auch oft mit weichem Nadelteppich versehen, in der bewaldeten Inselmitte oft mit massenweise Laub.
Winzige Insel mit riesiger Trail-Vielfalt
Ich platze förmlich vor Neugier! Und so sind wir kurze Zeit später schon auf unseren Mountainbikes unterwegs in Sachen befahrbarer Trail am Monte Capanne. Wir starten in Marciana, einem herrlich gelegenen Bergdorf im Norden des Berges. Fast scheint es, als ob es von der Neuzeit vergessen wurde, so altertümlich und ursprünglich liegt es da. Die Gegend ist seit der Bronzezeit besiedelt und eine der ältesten Gemeinden auf Elba. Viele Pfade sind Römerwege und wurden vormals als Transportwege genutzt. Fein, dass wir jetzt diese Wege zum Biken nutzen dürfen. Elba ist jedoch nicht nur wegen der Wegevielfalt, sondern auch wegen des ständigen Blicks auf das türkisfarbene Meer ein Traum für Biker. Die Pfade hier im Osten der Insel werden zum Teil von Michele und seinen Mountainbike-Kumpels gepflegt und regelmäßig neu markiert. Rot-Weiß – überall sehe ich hier diese Zeichen. Michele erklärt mir, dass das Markieren der Wege seine Winterbeschäftigung sei. Er fährt in der etwas kühleren Jahreszeit alles mit dem Bike ab, damit Touris wie ich nicht irgendwann orientierungslos im Wald stehen. Ein gutes Gefühl!
Der Anstieg kann kommen. Zuerst pedalieren wir eine Schotterauffahrt hinauf, bevor diese in einen Pfad übergeht, der an Steilheit stetig zunimmt. Als wir aus dem dichten Pinienwald auftauchen, müssen wir unsere Bikes schultern. "Eine halbe Stunde", sagt Michele. Ich muss grinsen, weil ich weiß, dass ich Micheles italienische Zeitangabe locker verdoppeln kann ...
"Pünktlich" nach etwa einer Stunde sind wir unter dem Gipfel – und genießen einen phantastischen Weitblick auf die ganze Insel, auch auf die vielen Nachbarinseln, die wunderbar aus dem klaren Mittelmeer herausragen.
Hart, aber schmerzlich: die Jungfernfahrt

Der Blick nach Westen – hinüber nach Korsika, Napoléons Heimatinsel – wird allerdings getrübt: Die Sonne kommt nicht ganz hervor. Rätselha , was dieses wolkenartige Gebilde am Himmel ist. Gewitterwolken sind es jedenfalls bei dieser sta- bilen Wetterlage nicht. Wir haben ohnehin kei- ne Zeit, darüber nachzudenken, weil ich viel zu gespannt bin, ob dieser Trail tatsächlich hält, was mein Begleiter verspricht. Michele, lizensierter italienischer MTB-Guide, lässt mir die Vorfahrt. Völlig übermotiviert schieße ich die ersten Meter in den Trail, bevor mein Abwärtsdrang nach einer leichten Linkskurve abrupt auf null abgebremst wird: "Oha, da geht’s ja schon wieder los!", denke ich, während ich meine kleine Wunde am linken Schienbein begutachte.
Der Trail entpuppt sich zwar als ambitioniert, aber für versierte Fahrtechniker komplett fahrbar. Durch viele kleine und größere Gesteinsbrocken muss ich ständig höllisch aufpassen, um nicht mit Pedal und Kurbel hängenzubleiben. Aber Michele hat recht. Was für ein Spaß! Der Trail schlängelt sich kilometerlang, niemals wirklich steil, nach unten. Und mein Flow wird erst unterbrochen, als ich vor einem Abzweig stehe. Zum Glück lässt mein Guide nicht lange auf sich warten. Generell sind die Wege auf Elba zwar gut ausgeschildert, aber ein Guide beim Biken ist vor allem deshalb hilfreich, weil es unzählige Abzweige gibt.
Von brennenden Waden und Inseln

Wer trotzdem ohne Guide auf Entdeckertour gehen will, findet auf der Calamita-Halbinsel jede Menge markierter Touren mit hohem Trailanteil – ohne Tragepassagen bergauf und die großen fahrtechnischen Herausforderungen wie bei unserem neuen Geheimtrail. Eine davon führt auch mitten durch die alte Erzmine direkt an der Steilküste. Fast wie in Mad-Max-Filmen stehen dort alte, verrostete Anlagen herum, ihrem Schicksal überlassen. Aber auch die rot-sandigen Wege dort sind echte Highlights. Doch wieder zurück zum Monte Capanne: Weiter geht’s bergab, und Micheles schelmisches Grinsen kennt kein Ende, als ich jubelnd den nächsten Trailabschnitt absurfe. Als wir dann nach einer gefühlten Ewigkeit direkt an einem herrlichen Sandstrand ankommen, haben wir mehr als zehn Kilometer Abfahrtsspaß hinter uns. Immer wieder gespickt mit kurzen Uphills.
Zwischenzeitlich hat sich die Sonne jedoch komplett verabschiedet und die Wolken werden immer dichter. Gespannt schauen wir in Richtung Himmel. Endlich klärt uns ein Einheimischer auf: "Korsika brennt! Das sind Rauchwolken, die durch ungünstigen Wind herübergetragen werden." Wir schauen noch eine Zeitlang staunend, bevor wir völlig groggy, aber auch glücklich unsere Heimfahrt antreten.
Auf den Pfaden von Napoléon Bonaparte
Auch die nächsten Tage sind wir gemeinsam unterwegs, etwa auf den "Napoléontrails", einem Wegenetz zwischen der Inselhauptstadt Portoferraio und dem kleinen Ort Lacona. Napoléon Bonaparte war auf Elba im Exil. Gerade mal zehn Monate regierte er Elba, aber hinterließ so sehenswerte Bauten wie die "Villa San Martino". Uns bleiben die nach ihm benannten Trails. Diese sind sehr leicht durch Verbindungsstraßen zu erreichen und bieten immer wieder Abfahrtsspaß bis direkt an die feinen Sandstrände im Norden und Süden der Inselmitte. Aber auch rund um die abgelegenen Dörfer im Nordosten gibt es viele einsame Wege. In den Monaten Mai und September sind sie wie ausgestorben, wie fast die gesamte Insel. Gerade mal 32 000 Einwohner zählt Elba. Und wenn ich mit Michele unterwegs bin, kommt es mir so vor, als ob hier jeder jeden kennt. Unzählige lockere Gespräche mit Einheimischen gehören bei unseren Touren einfach dazu. Die Wege sind alle offiziell befahrbar, und ein freundliches Miteinander ist völlig normal: Schön, dass es hier so gut funktioniert!
Die Insel hat vor allem um den Monte Perone auch viele Enduro-Trails, die gut mit dem Shuttle erreichbar sind. Der 630 Meter hohe Berg oberhalb von Marina di Campo genießt gerade bei den Einheimischen Kultstatus. Einige neue Wege mit Sprüngen, Anliegern und Northshore-Elementen haben die Locals in der Inselmitte initiiert.
Tausend Gründe also, Elba zu lieben! Einer davon ist aber auch, dass die Insel völlig unproblematisch mit der Autofähre von der Hafenstadt Piombino am Festland aus erreichbar ist. Die Überfahrt dauert nur eine Stunde – und der Bikeurlaub fängt eigentlich auf der Fähre an. Und endet leider auch dort wieder. Wehmütig blicke ich vom Meer aus nochmals zu "meinem" Elba hinüber. Alles fahrbar! Das Fragezeichen auf der Stirn hat sich in ein zweiwöchiges Dauergrinsen verwandelt. Wie ein liegendes Ausrufezeichen.