Warum ausgerechnet rosa? Isidro Negrín Correa trägt sein Leibchen sichtlich mit Stolz, aber für mich passt seine Trikotfarbe so
gar nicht zu den Tönen dieser Insel: weder zum blauen Meer noch zu den roten, braunen, schwarzen Lavafelsen und schon dreimal nicht zu den grünen Palmen im flirrenden Zwielicht. Isidro sieht irgendwie aus wie Paulchen Panther. Und das auf der einstigen Hippie-Insel.
Doch das, was er so stolz trägt, ist das offizielle Trikot des Club Ciclista Gomera. Der Fahrradclub der Insel hat in jeder Region seine Ableger. Was sie alle vereint? Klar, das rosa Trikot. Rosa hin oder her – auf eine Entdeckungsfahrt mit Isidro sollte kein Gomera-Biker verzichten. Er ist nämlich nicht nur Stilikone, sondern auch Hausmeister vieler versteckter Wege. Isidro kennt sie alle, diese Trails der wunderbaren Art, die sich entlang der Felsen mogeln und sich hinabstürzen in die Barrancos, die Canyons.
Gestern hatte mir Isidro schon eine der spektakulärsten Touren auf La Gomera gezeigt: die 18-Kilometer-Runde namens Buenavista im Nordwesten der Insel. Wir waren von den Heilquellen in Epina – Wasserflaschenfüllen ausdrücklich erlaubt – an der Kapelle Santa Clara vorbei auf schmalem Kamm zum Aussichtspunkt Buenavista gefahren. Unwirkliche Lavalandschaften und unendlicher Tiefblick auf den Atlantik inklusive. Ein vielversprechender Start dieser Entdeckerwoche abseits des Bike-Booms auf der Nachbarinsel La Palma. Mir wurde gestern schon klar, dass das gerade mal 25 mal 25 Kilometer kleine, kreisrunde und fast 1500 Meter hohe Eiland zwischen La Palma und Teneriffa ein echtes, wenn auch noch weitgehend unbekanntes Mountainbike-Juwel ist.
1300-Tiefenmeter-Sinkflug zum Meer

Heute aber wartet der Höhepunkt La Gomeras! Von der Laguna Grande an der zentralen Höhenstraße lassen wir uns zum Garajonay, dem mit 1487 Metern höchsten Punkt der Insel, shuttlen. Eine Stunde später stehen Isidro und ich am Mirador de Igualero, einem Aussichtspunkt über den tiefen Schluchten im Süden La Gomeras. Um uns eine gewellte Hochebene mit vereinzelten Palmen, Weinstöcken, kleinen Feldern. Wir wollen aus 1300 Meter Höhe durch das Valle Gran Rey bis hinunter ans Meer fahren. Klingt wie im Traum. Wenn zu Hause der Schnee leise rieselt, klettert hier auf der sonnenverwöhnten Südseite der Insel das Thermometer verlässlich über 20 Grad Celsius. Und so lassen wir auf einem engen Weg die Schwerkraft wirken.
Auf herrlich schnellen Passagen lässt der Mann in Rosa vor mir die Bremse offen. Nerven hat er! Schließlich ist unser langer Weg bergab von grobklotzigen Steinen durchzogen. Immer wieder wird die Fahrt durch Stufen, Schwellen und Steilpassagen unterbrochen – anspruchsvoll, aber cool. Wer hier kein Fully hat, reitet wie auf dem Presslufthammer. Flow? No, gracias! Die alten Königswege sind ruppiger als mancher Alpen-Trail. Sonnenklar: Die ehemalige Hippie- Insel ist nichts für Bike-Hipster und ihre neumodischen Flowtrails. Eher was für Gardaseeerprobte Fans des Rumpeldipumpels.
Auf fünfhundert Jahre alten Königswegen

Die harten Wege auf La Gomera haben eine lange, steinige Geschichte zu erzählen. Bei einem kurzen Stopp erklärt mir Isidro, dass zu den Zei- ten der Guanchen, der Ureinwohner, diese Hochebenen ideale Siedlungsflächen waren, in denen man Ackerbau betreiben, jagen und sammeln konnte. „Bevor die Spanier hierher kamen, waren die Menschen auf winzigen Pfaden unterwegs. Die Berge ging es in der Falllinie hoch und runter. Serpentinen gab es nicht. Wenn es zu steil wurde, nahm man eben die Hände zu Hilfe“, erzählt mein Reiseführer. Was wir nach unten rauschen, ist ein Königsweg – und gut fünfhundert Jahre alt. Höchste Zeit also, den Camino del Rey aus seinem Jahrhundertschlaf zu wecken und ihm nach Maultierhufen, Ledersandalen und nackten Fußsohlen nun auch einmal das Profil eines Bike-Reifens zu zeigen.
Isidro und ich fahren an einem gewaltigen Tafelberg vorbei, der wie eine Festung aus der Hochebene ragt. Sein spanischer Name Fortaleza bedeutet auch genau das: Festung. „Hier oben hatten sich im 15. Jahrhundert die Ureinwohner der Insel vor den Spaniern verschanzt“, erklärt mir Isidro. Vorangegangen waren fünf Jahrzehnte ständiger Kämpfe, bei denen die Altkanarier den Konquistadoren zeigten, dass sie auf dieser zerschluchteten Insel mit ihrer Guerilla-Taktik schwer zu besiegen waren. „Doch man lockte sie mit falschen Versprechungen aus ihrer Festung, überfiel sie, tötete die meisten und versklavte den Rest der Ureinwohner.“ Valle Gran Rey. So heißt in Erinnerung an den Guanchen-König Hupalupa die größte Schlucht im Süden von La Gomera. Wegen ihrer Sonnenscheingarantie ist sie einer der touristischen Hotspots der Insel. Dieses Tal des großen Königs sehe ich jetzt auf unserem Trail zum ersten Mal. Vorher hatten wir die parallel dazu verlaufende Schlucht des Barranco de Erque an ihrem oberen Ende umzirkelt, waren – teilweise mit leichten Gegenanstiegen – an winzigen Wei- lern wie Chipude und El Cercado vorbeigekommen. Dass die jahrhundertelang fast vergessenen, über die gesamte Insel verstreuten Königswege in den letzten Jahren neu erschlossen wurden, begründet den Ruf La Gomeras als Wanderparadies. Aber auch immer mehr Mountainbiker lockt der im Tourismusschatten von La Palma, Teneriffa & Co. versteckte, herbe Charme La Gomeras. Bestes Beispiel: der Weg durchs Tal des großen Königs. Das Valle ist umgeben von mehreren hundert Meter hohen, fast senkrechten Wänden aus Lavagestein. „Wie sollen wir da hinunterkommen?“, frage ich Isidro. „Die Guanchen haben es auch geschafft“, sagt er, lächelt vielsagend und rumpelt vergnügt los.
Unterwegs mit dem heimlichen König

Wie gehabt folge ich seinem leuchtenden Trikot auf teilweise steilen und technischen Abschnitten durch die Felsen nach unten. Ein Stück auf Asphalt durch einen Tunnel, dann wieder steil nach unten auf unglaublichen Trails. Ein Trommelfeuer an Schlägen walkt mich durch, felsige Schwellen und Absätze machen diesen Weg zur echten Herausforderung. Bike-Bouldering auf Kanarisch. Ab und zu mal zu schieben ist keine Schande.
Die wilde Abfahrt endet direkt am Meer. Puh! Was die Altkanarier und die Spanier auf diesem Trail mühsam zu Fuß in vielen Stunden anstrengender Wanderung überwinden mussten, haben wir in weniger als einer Stunde geschafft. Guanchen und Konquistadoren würden staunen. Und natürlich über Isidros rosa Trikot. Der ist übrigens nicht nur Stilikone und Trail-Hausmeister, sondern zweiter Bürgermeister des Gemeindeverbundes Valle Gran Rey. Also der heimliche König von La Gomera.
