"29 Zoll rollt am besten!" "Aber 27,5 Zoll ist agiler." "Fatbikes bieten viel mehr Grip!" "Mir egal, ich bleib bei 26 Zoll!" Können Sie’s auch nicht mehr hören? Kein Wunder, viele Biker sind der Diskussionen über Laufradgrößen überdrüssig. Schließlich stellte die innovationsfreudige MTB-Branche in wenigen Jahren erst 29", dann 27,5", dann Fatbikes als "Must have" vor.
Und jetzt kommt der nächste Hype: "Plus", auch B+ oder 27,5+ genannt. Anlass zur totalen Verweigerungshaltung? Vielleicht. Für MountainBIKE aber vor allem Grund, dem Ganzen wirklich auf den Grund zu gehen. Mit unbestechlichen Messdaten, mit unvergleichlichem Aufwand und schlussendlich auch mit dem unverzichtbaren Popometer. Alles mit spannenden Ergebnissen!
27,5+ im MountainBIKE-Test
Doch was bedeutet 27,5+? Im Grunde genommen ist es "nur" eine breitere Version von 27,5": Reifen von bis zu 3,0" Breite sitzen auf einer bis zu 40 mm breiten Felgen. Die Vorteile sollen mehr Grip, Komfort und Sicherheit auf dem Trail sein.
"Das waren doch die Argumente, mit denen man uns 29" oder Fatbikes verkaufte", werden Sie jetzt denken. Richtig, und es ist tatsächlich so, dass erst die jüngsten Erfahrungen mit den Fatbikes das Thema Reifenbreite plötzlich so brisant machten. Der Vorteil der Fatbikes ist ja gerade, dass sie mit Luftdrücken um 0,5 Bar gefahren werden und somit schier unendlich Traktion bieten.
Diesen Grip-Gewinn wünschten sich die Bike-Macher auch für normale Bikes, wollten aber das hohe Gewicht der Fatbikes mit bis zu 5,0" breiten Reifen vermeiden: "Plus" war geboren. Das Versprechen: ein Bike mit dem Grip eines Fatbikes, aber dem "Feeling" eines klassischen MTBs.
Und in ersten Fahrtests zeigten die Plus-Bikes tatsächlich viel Traktion und ein enorm sicheres Fahrgefühl, von dem auch MTB-Neulinge oder weniger versierte Fahrer/innen profitieren. Also ist 27,5+ nun das Nonplusultra? Oder überwiegen die Nachteile wie das unbestreitbar höhere Gewicht oder die gewisse Trägheit im Handling? Das alles wollte MountainBIKE genau wissen – nicht nur spüren. Vor allem jedoch geht es bei diesem Test darum, dass Sie, lieber Leser, erfahren, welche Laufradgröße und Reifenbreite die beste für Sie ist.
MountainBIKE ließ dazu ein Bike von 2D-Datarecording-Spezialist Dirk Debus mit hochpräziser Messtechnik ausstatten. Es wurde ein Bike gewählt, auf dem die getesteten Laufradgrößen montiert werden konnten. In den Fokus stellte die Redaktion fünf Laufradaufbauten je mit dem Reifen Schwalbe Nobby Nic und vergleichbaren DTSwiss-Laufrädern: zwei in 27,5", zwei in 27,5+, einer in 29" – jeweils in relevanten Breiten.
Zudem stellte MountainBIKE das von Schwalbe und Syntace entwickelte, 195 Euro pro Satz teure Doppelkammer-System Procore mit auf den Prüfstand. Apropos: Gemessen und "erfahren" wurden Gewichte, Abmessungen, Kurventraktion, Komfort, Rollwiderstand, Pannenschutz und Trail-Handling. Nicht zum Einsatz kam 26", da kaum ein Bike-Hersteller noch 26"-Räder anbietet. In etwa verhält sich 26" so zu 27,5", wie 27,5" zu 29". Die Ergebnisse lassen sich auf das Ur-Maß also bedingt hochrechnen.
Das Testbike

An einem Scott Genius 700 Tuned Plus montierte Dirk Debus von 2D-Datarecording sein Equipment. Nach jeder Testfahrt wurden die Daten, also der Input aus dem Beschleunigungssensor in m/s² sowie der Input aus dem GPS in km/h, auf den PC übertragen. Diese wurden anschließend über das Programm "Win a Race" von 2D, das vor allem im Motorrad-Rennsport (MotoGP) eingesetzt wird, ausgewertet. Das Messinstrument erlaubt es, die Praxisfahrten präzise zu überwachen, und verifiziert oder falsifiziert die Aussage des Testfahrers.
Das Testbike Scott Genius 700 Tuned Plus bietet die Möglichkeit, sowohl 27,5-Plus-Laufräder als auch 29-Zöller zu verbauen. "Normale" 27,5"-Räder passen logischerweise ebenso, auch wenn das Scott Genius 700 Tuned Plus nicht für diese ausgelegt ist. MountainBIKE baute fünf Laufräder (je zwei Mal 27,5" und 27,5+, ein Mal 29") mit relevanten Reifen-/Felgenbreiten auf. Die Maße finden Sie weiter unter im Abschnitt "Abmessungen". Praxisgerecht pumpte MountainBIKE folgende Drücke in die Reifen: 27,5" und 29": 1,7 Bar. 27,5+: 0,9 Bar. Procore: 6,0 Bar innen, 1,3 Bar außen. Testfahrer und U23-Racer Simon Gessler wiegt 69 Kilo.





Abmessungen
Logo, die Plus-Reifen fallen am breitesten aus. So ist der 3,0"-Pneu fast zwei Zentimeter (~35 Prozent!) breiter als sein 27,5"-Bruder in 2,25". Mehr Breite bedeutet eine größere Auflagefläche und damit – theoretisch – mehr Grip. Die MountainBIKE-Profilabdrücke veranschaulichen die jeweilige Kontaktfläche exzellent.
Auffälligkeiten: Der 2,8er baut verhältnismäßig niedrig, so soll das Abknicken des Reifens in Kurven verhindert werden. Relativ schmal/flach fällt der 29"-Reifen aus, besitzt dennoch den größten Außendurchmesser. Folge: Bei 29" ist der Aufprallwinkel auf Hindernisse am flachsten, das verspricht das beste Überrollverhalten.

Gewichte
Der Blick auf die Gewichte zeigt bei den fünf Testlaufrädern große Unterschiede. Der 27,5"-Aufbau mit Doppelkammersystem Procore etwa ist viel schwerer als der klassische 27,5" x 2,25"-Aufbau mit Dichtmilch.
Grund: Bei Procore sitzt im Reifen ein dünnwandiger Schlauchkern mit Spezialventil, was pro Satz gut 450 g zusätzlich auf die Waage bringt. Somit ist der Procore-Satz auch schwerer als der Plus-Aufbau in 27,5" x 2,8".
Die gewichtigste Kombi: 27,5" x 3,0" auf 40-mm-Felge ist fast 800 g bzw. rund 20 Prozent schwerer als 27,5" x 2,25" – das lässt eine schlechtere Beschleunigung von Plus-Reifen vermuten.

Kurventraktion

Auf stets gleichem Untergrund testete und vermaß MountainBIKE das Kurvenverhalten der fünf Aufbauten. Dabei rollte Testfahrer Simon Gessler mit jedem Aufbau 6–10 Mal durch eine abgesteckte, abfallende Kurve. Mit jedem Reifensatz begann er beim selben, festgelegten Ausgangspunkt. Danach steigerte er je nach subjektivem Befinden und Grenzbereich des Reifens seine Starthöhe und damit die Geschwindigkeit. Nur vollständige, sauber gefahrene Kurven wurden gezählt.
Die subjektiven Eindrücke konnten dank Datarecording überprüft und analysiert werden. Fuhr der Fahrer die Kurve am Limit, schlug sich das nicht nur in der Kurvengeschwindigkeit nieder, sondern vor allem in der gemessenen Fliehkraft (bis zu 5,5 g, im Schnitt waren es 1,0 g). Der Speed unterschied sich dabei nur gering, dennoch war Testfahrer Gessler mit den beiden Plus-Reifen im Durchschnitt etwas flotter als mit dem Rest.
Doch die aufgezeichneten Kräfte und auch das eigene Empfinden des Testers sprechen eine klare Sprache: 27,5 Plus bietet enorme Sicherheit.
Während Gessler etwa bei 27,5" x 2,25" kaum eine sechste Fahrt schaffte, weil Hinterrad oder Vorderrad wegbrachen, konnte er mit den Plus-Reifen entspannter durch die Kurve rollen. Unterschiede zwischen 2,8" zu 3,0" gab es hingegen nicht, weder messbare noch im subjektiven Empfinden.

Rollwiderstand
Tests auf dem Rollenprüfstand von Schwalbe ergaben, dass der Rollwiderstand von 27,5" x 2,8" nur ein Prozent höher ist als bei 27,5" x 2,35". Aber: Im Labor rotiert der Reifen auf einem Metalluntergrund. Um realitätsnahe Ergebnisse zu erlangen, testete MountainBIKE die fünf Laufradaufbauten auf einem Schotterweg.
Der Startpunkt blieb stets identisch, der Fahrer rollte den Berg hinab in einen Gegenhang hinein. Nach sechs Fahrten pro Set zeigte das Datarecording, wie schnell die Reifen beschleunigten und wie hoch die maximale Geschwindigkeit war. Das Resultat ist knapp, aber signifikant. Die höchste Geschwindigkeit erreicht 29" x 2,35", am langsamsten ist 27,5" x 3,0".
Interessant sind die Beschleunigungswerte: die Zeit bis zum Erreichen von 10 km/h. Hier zeigen sich die großen 29"-Laufräder träger. Sprich: 29"-Räder benötigen einen stärkeren Impuls, um zu beschleunigen. Einmal "in Fahrt", erreichen sie dank der höheren Kreiselkräfte eine höhere Geschwindigkeit.
Die eigentliche Überraschung: Die 2,8"-Plus-Reifen sowie Procore beschleunigen fast so flink wie 27,5" x 2,25" und erreichen durch den größeren Durchmesser (mehr Kreiselkraft ) sogar eine leicht höhere Endgeschwindigkeit als die schmaleren 27,5"-Pneus. Auch auf Schotter wirkt sich das bessere Überrollverhalten dank niedrigem Luft druck also positiv aus – bei den 3,0"-Reifen scheint das hohe Gewicht diesen Effekt indes zu überlagern.

Komfort/Überrollverhalten

Beim Test des Komfort- und Überrollverhaltens setzte MountainBIKE auf eine künstliche Piste, um vergleichbare Daten aufzuzeichnen. Das Rüttelbrett, das eine Abfolge von Schlägen simuliert, wurde vom Fahrer immer identisch mit gleicher Geschwindigkeit überfahren.
Betrachtet man die Differenz der Geschwindigkeiten vor dem Brett und danach, fällt auf, dass 27,5" x 2,25"- und 29" x 2,35"-Reifen einen relativ großen Verlust von durchschnittlich 3,5 km/h verzeichnen (Eingangsgeschwindigkeit: ca. 10 km/h) – das vermeintlich beste Überrollverhalten von 29" bestätigt sich also nicht.
Plus-Reifen sind durch den geringen Luft druck um 1,0 Bar im Vorteil: Sie absorbieren Schläge und somit Energie besser und verlassen die Rüttelpiste im Schnitt um 10 Prozent schneller als der 29er-Satz und um 12 Prozent schneller als 27,5" x 2,25". Ein ähnliches, nicht ganz so gutes Verhalten beweist Procore, denn auch hier "herrscht" niedriger Luftdruck.
Ein Blick auf die Kräfte-Kurven (siehe unten) zeigt, dass die Hindernisse bei 27,5" x 2,25" für Spitzenkräfte bis zu 10,0 g und bei 29" bis zu 9,0 g sorgen. Das ist ein Drittel mehr als bei Plus-Reifen (6,0 g). Bei Procore sind es 7,6 g. Geringere Spitzenkräfte bedeuten weniger Lastspitzen, die der Fahrer abfedern muss.
Kurzum: Plus-Reifen rollen nicht nur schneller/besser über Hindernisse, sie fahren sich auch komfortabler.



Pannenschutz

Ein elementares Unterscheidungskriterium von Reifen ist der Pannenschutz. MountainBIKE fertigte eigens für diesen Systemvergleich einen Fallbeiltest an, um den Durchschlagschutz zu testen. Alle Reifen waren dazu mit Tubeless-Milch, nicht mit Schlauch, befüllt. Die Fallhöhe des Beils erhöhte MountainBIKE schrittweise, bis das Beil a) auf die Felge durchschlug und b) dort eine erste, leichte Beschädigung hinterließ.
Dabei zeigte sich, dass die beiden Plus-Reifen, bis es zum ersten Felgenkontakt kommt, in etwa gleichauf mit den klassischen Reifenbreiten liegen. Bis zu einer Delle in der Felge konnte die Fallhöhe bei 2,25"/2,35" aber stärker gesteigert werden. Mit weitem Abstand den besten Durchschlagschutz bietet das Procore-System dank des prall gefüllten Schlauchkerns.
Fazit: Mit herkömmlichen Reifen sind Sie sicherer unterwegs, Procore ist top.

Praxistest/Trail-Handling

Vielleicht die spannendste Frage des Tests: Lassen sich die Messdaten auf das "freie Fahren" im Gelände übertragen? Die klare Antwort: ja!
So ist das subjektive Sicherheitsgefühl mit den Plus-Reifen immens. Selbst die vielgelobten 29er kommen nicht an den Grip-Gewinn ran. Die großen Reserven verleiten aber auch zu hohen Geschwindigkeiten bergab – hier ist eine gesunde Selbsteinschätzung gefragt. Und auf Felsstufen stellten die Tester ein dezent "hüpfendes", aufschaukelndes Verhalten ("Bounce-Effekt") fest. Der Vortrieb der 2,8er ist tatsächlich erstaunlich gut, die 3,0"-Reifen hingegen rollen träger und bringen in Sachen Grip kaum einen spürbaren Vorteil.
Generell spielt der Fahrstil eine wichtige Rolle: Besitzen Sie etwa eine aggressive Kurventechnik, können Plus-Reifen mit geringem Luftdruck schnell wegknicken – und sind dann nicht erste Wahl. In ersten Langzeittests bestätigte sich zudem der schlechte Pannenschutz der Plus-Reifen.
Richtig gut fährt sich das Procore-System: Dank geringem Luftdruck bietet Procore fast so viel Traktion wie Plus-Pneus, wenn auch bei geringerer Neigung zum Walken. Das hohe Gewicht ist aber spürbar.

Fazit
2016er-Bikes in 27,5 Plus:









