2018 sind mein Fahrrad und ich aus der niedersächsischen Provinz nach Hamburg gezogen. Seitdem pendeln wir fleißig durch die deutsche Großstadt, die von sich sagt, sie wolle eine Fahrradstadt werden. Gut, "wir" ist in diesem Zusammenhang etwas irreführend, denn das Fahrrad von damals wurde schnell geklaut. Genauso wie sein Nachfolger.
Wo wir auch schon beim eigentlichen Thema wären. Gelernt habe ich als Radfahrerin in der Großstadt auf die harte Tour: Der einzige sichere Aufbewahrungsort für mein Rad ist meine Wohnung. Aber darüber hinaus sind bei vielen Stunden im Sattel noch andere Lektionen herausgekommen:
Durchs Fahrradpendeln in der Großstadt habe ich gelernt …
1. Wie schön es in der Stadt ist

Als Hamburgerin tut es weh gegen Bremen zu verlieren: Aber laut ADFC ist Bremen die fahrradfreundlichste Großstadt Deutschlands. Seufz…
Wer nur in der U- und S-Bahn, Bus oder Auto unterwegs ist, neigt dazu, die Stadt an sich als vorbeirauschenden, verschwommenen Ort zu sehen, der maximal dort schön ist, wo Parks, Ausgehviertel und historische Altstädte Touristen anlocken. Aber vom Sattel aus sieht man die versteckten Schönheiten dazwischen: Die von Anwohnern liebevoll gestaltete Urban-Gardening-Ecke, den wirklich lustigen Sticker am Ampelmast, die herzerwärmende Interaktion von zwei Freunden, die sich zufällig vor dem EDEKA treffen. All das sieht man vom Rad am allerbesten, weil man mit den Augen und Ohren draußen ist.
2. Freiheiiiiit zu spüren!

Yippie! In Metropolen nimmt die Fahrradfreundlichkeit leicht zu, z.B. durch ein größeres Angebot an Leih-Rädern oder bessere Abstellanlagen. (Quelle: Fahrradklimatest ADFC)
Es wurde schon oft beschrieben, aber ich kann es nicht anders sagen: Seit sieben Jahren lerne ich jeden Tag mehr die Freiheit auf dem Rad in der City zu schätzen. Diese Großstadtfreiheit ist etwas subtiler als die, die das Fahrrad mir mit 16 auf dem Dorf gegeben hat. Das Rad war damals Unabhängigkeit von Bussen und Taxi Mama. Heute würde ich auch mit drölfzig anderen Verkehrsmitteln ähnlich schnell ans Ziel kommen. Aber mit keinem Verkehrsmittel cruist man so frei von jedem Hindernis durch viel zu oft verstopfte Straßen und braucht sich keinen Kopf um Parkplätze und Verspätungen zu machen.
3. Freundlicher zu sein

Ich will's besser machen: Laut Fahrrad-Monitor 2023 haben nur 40 % der Befragten das Gefühl, dass Verkehrsteilnehmende ausreichend aufeinander Rücksicht nehmen.
Schwer zu glauben, aber Radfahren in der Stadt hat mich gelehrt, freundlicher zu sein. Denn ich bin der Überzeugung, Freundlichkeit ist das Mittel zu mehr Toleranz im Straßenverkehr. Der Lieferwagenfahrer, der ordnungsgemäß neben dem Fahrradstreifen anhält bekommt von mir ein kurzes "Danke!" zugerufen. Die Fußgängerin, die Platz macht wird freundlich angelächelt. Die Autofahrerin, die an der Tankstellen-Ausfahrt zurücksetzt, damit ich vorbeikomme – Daumen hoch. Klar, vieles sollte selbstverständlich sein. Ist es aber nicht! Und deshalb setze ich auf positive Bestätigung statt immer nur Meckern!
4. Unfreundlicher zu sein

Laut Fahrrad-Monitor ärgern sich Radler v.a. über rücksichtslose Autofahrer (64 %), zu viel Verkehr (59 %) und zu hohe Geschwindigkeiten von Autos (54 %).
Gleichzeitig denke ich aber immer öfter: IMMER nur nett sein ist vielleicht auch nicht die Lösung. Wenn sich mehr Radfahrer lautstark bemerkbar machen, ändert sich möglicherweise wirklich irgendwann etwas am autofixierten Denken. Also jeden Radweg-Parker anzeigen und jeden Eng-Überholer an der nächsten Ampel zur Rede stellen? Warum nicht. Der im ADFC engagierte Verkehrsanwalt Peter Kappel hat das in einem sehr lesenswerten Interview in der SZ (Plus-Abo nötig) die "Demonstrationswirkung" genannt.
"Wenn jeder Radfahrer jeden Verstoß anzeigen würde und ein bestimmter Autofahrer tauchte dabei vermehrt auf, dann würde der auch erkannt und zur Rechenschaft gezogen. Aber das funktioniert natürlich nur langfristig, vergleichbar etwa mit der Wirkung von Demonstrationen."
5. Uneitel zu sein

Frisur vs. Sicherheit: Fast die Hälfte aller Radfahrenden trägt immer bzw. meistens einen Fahrradhelm. Für Warnwesten waren leider keine Zahlen zu finden.
Als frisch nach Hamburg gezogene Mittzwanzigerin bin ich immer ohne Helm gefahren. Vor allem, weil ich es uncool fand. Jeans und Lederjacke war mein Outfit. Funktionale Klamotte? Geh mir weg damit! Mittlerweile trage ich nicht nur Helm, sondern auch Regenhose, Funktionsjacke, Überziehschuhe und gelegentlich sogar Warnweste. Und womit? Mit Stolz! Selbst die Jeans habe ich dem Fahrradfahren geopfert. (Die hätte ich allerdings gerne wieder – falls jemand Tipps gegen Sattelabdrücke auf Jeans hat, gerne her damit!) Nur zu diesen neonfarbenen Helm-Überzügen konnte ich mich noch nicht durchringen. Aber das kommt vielleicht noch.
6. Stress abzubauen trotz Verkehr!

Bei Ausdaueraktivitäten wie Radfahren werden nach 30 bis 40 Minuten die Glückshormone Endorphin und Adrenalin ausgeschüttet.
"Fahrradfahren im Stadtverkehr ist keine Entspannung für mich. Das ist Stress!" Das sagen mir viele Leute, mit denen ich übers Radfahren in Hamburg rede. Und klar, neben den von der Autobahn kommenden Lkw die sechsspurige Stresemannstraße entlangzufahren oder die Never-Ending-Baustelle an der Mundsburger Bucht irgendwie zu queren ist jetzt auch nicht die Art von Entspannung, an die ich jetzt denke. Aber die Jahre haben mich gelehrt: Man gewöhnt sich dran! Man weiß, wo man besonders aufmerksam fahren muss und wo es entspannter ist. Und die paar Hotspots, an denen der Verkehr wirklich nervt, stehen immer mehr breite, geschützte Radwege und Fahrradstraßen gegenüber, an denen man wirklich abschalten und relaxen kann.
Fazit: Ich liebe Radfahren – selbst in der Großstadt
Sieben Jahre Fahrradpendeln in der Großstadt haben mich verändert – und zwar in vielerlei Hinsicht. Ich habe gelernt, die Stadt anders zu sehen, Freiheit neu zu definieren und im Straßenverkehr eine Balance zwischen Freundlichkeit und Durchsetzungsvermögen zu finden. Ich habe meine Eitelkeit abgelegt (zumindest, was Funktionskleidung angeht) und gemerkt, dass selbst im dichtesten Verkehr Entspannung möglich ist. Und trotz aller Herausforderungen weiß ich: Ich würde mein Rad gegen kein anderes Verkehrsmittel eintauschen.