Toskana? Das klingt nach sanften Hügeln, Zypressen-Alleen, Weltkulturerbe und gutem Essen. Das stimmt natürlich auch. Irgendwie. Gerade spritzt mir aber toskanischer Schlamm ins Gesicht, hochgeschleudert vom Hinterrad des Fahrers vor mir. Seit Stunden prasselt der Regen nieder. Die eigentlich weißen Straßen der Toskana: aufgeweicht, von Pfützen übersät, rutschig. Die tausenden Rennradler, die sich an diesem Sonntag im März auf den Strade Bianche fortbewegen: über und über mit Schlamm bespritzt, durchnässt, halb erfroren. Und doch: Kaum jemand wird nicht mit leuchtenden Augen über diesen Tag im Sattel berichten und sich lange, lange an dieses Erlebnis erinnern.

Die Strade Bianche, das sind schmale Schottersträßchen, oftmals hunderte Jahre alt, die sich in der Toskana über Bergrücken ziehen, größere Asphaltstraßen verbinden oder so manch abgelegenen Hof erschließen. Unter Radsportlern bekannt geworden sind sie vor allem durch die Eroica – jenes Jedermannevent, bei dem man mit historischen Stahlrennrädern und Baumwolltrikots den Radsporthelden vergangener Jahrzehnte nacheifert. Doch auch auf modernen Rennrädern haben sich die Strade Bianche ihren festen Platz im Radsportkalender verdient.

Unwillkürlich mag man dabei an die ebenfalls über hundert Jahre alten Kopfsteinpflasterpassagen von Paris-Roubaix denken, die „Hölle des Nordens“. Und tatsächlich gibt es einige Parallelen. Beide Events führen im Wechsel über Asphaltstrecken und durchnummerierte „Sektoren“ – bei Roubaix das Kopfsteinpflaster, bei Strade Bianche der toskanische Schotter. Beide Events stellen höchste Herausforderung an Mensch und Material. Und von beiden Events geht eine besondere Faszination aus, die Profis, Jedermänner und Fans am Straßenrand in ihren Bann zieht. Die ungleich längere Tradition hat dabei natürlich Paris-Roubaix, das seit 1896 ausgetragen wird.
Doch auch Strade Bianche wird bereits als Klassiker bezeichnet, und das, obwohl es erst seit 1997 (Jedermannrennen) beziehungsweise 2007 (Profirennen) ausgetragen wird. Grund für den raschen Erfolg: die Kombination aus sportlicher Herausforderung, landschaftlicher Schönheit der Toskana und atemberaubender Kulisse des Start- und Zielorts Siena. Und: der große Zuspruch. Über 5000 Hobbysportler starten jährlich beim Gran Fondo. Und beim mittlerweile zur WorldTour zählenden Profirennen streiten sich Jahr für Jahr namhafte Klassikerfahrer wie Greg van Avermaet, Peter Sagan oder Michal Kwiatkowski um den Sieg – Rekordsieger ist niemand anderes als der Schweizer Fabian Cancellara.

Dieser steht auch in seinem ersten Jahr als Radsport-Pensionär wenige Meter vor mir am Start – allerdings startet „Spartacus“ nicht beim Profirennen, sondern beim Gran Fondo. Trotz Dauerregen schwatzt Cancellara lachend mit Ivan Basso und Paolo Bettini, posiert für Selfies mit Tifosi und anderen Startern – und lässt es dann ruhig angehen. Nach dem Start am mächtigen Fortezza Medicea von Siena, dessen Altstadt zum UNESCO-Welterbe gehört, geht es erstmal in eine rasende Abfahrt – bei strömendem Regen. Die Strecke ist zumindest am Anfang gesperrt, trotzdem lohnt sich bei den Bedingungen eine defensive Fahrweise. Nach wenigen Kilometern beginnt der erste Schotterabschnitt „Vidritta“ – 2,1 Kilometer lang, vollständig flach, langgezogen wie eine Schnur, ohne eine einzige nennenswerte Kurve. Und hier zeigt sich direkt, was auf den Schotterpassagen auf die Fahrer wartet: schmieriges Geläuf, Schlaglöcher, Querrillen. Strade Bianche verlangt eine gute Fahrtechnik, kräftige Beine, Mut und ein, zwei Ersatzschläuche im Satteltäschchen. Und schlucken die Teilnehmer bei trockenen Bedingungen Staub, sehen sie dieses Mal bereits nach dem ersten Sektor aus wie Cross-Rennfahrer.

Spätestens mit Sektor zwei – „Bagnaia“ – beginnt zudem das, was Strade Bianche grundlegend von Paris-Roubaix unterscheidet – das stetige Bergauf und Bergab. Hatte ich eben noch von sanften Hügeln gesprochen? So aussehen mögen sie ja. Doch wenn man pedalgetrieben hinauf will, bremsen die Straßen den Schwung des Rennradlers nicht selten mit zweistelligen Prozenten. Angesichts des Regens, der Kälte und des frühen Zeitpunkts im Jahr ist man da nicht traurig, dass der Gran Fondo „nur“ 130 Kilometer misst (davon gut 30 km Schotter; zur Auswahl steht auch ein Medio Fondo über 77 Kilometer mit 20 Kilometern Schotter).
Mir zieht es ab der Rennhälfte langsam aber sicher den Stecker: kaum flache Rollerpassagen, in denen man sich im Windschatten einer Gruppe erholen könnte, immer wieder das Gerumpel der Schotterpisten. Und diese sind auch schon mal länger: Satte 9,5 Kilometer misst der Sektor „San Martino in Grania“, die meisten anderen sind zwischen vier und fünf Kilometern lang. Vor allen Dingen bergab verlangen die Schottersträßchen vorausschauendes Fahren, höchste Konzentration und funktionierende Bremsen. Bergauf dreht hingegen gerne mal das Hinterrad durch.

Zur „Hölle des Südens“ werden für mich die letzten beiden Sektoren: „Colle Pinzutto“ führt mit 15 Prozent Steigung gen Himmel, „Le Tolfe“ stürzt erst mit 18 Prozent Gefälle zu Tal, um aus selbigem sofort wieder mit identischer Steigung hinauf zu führen. Wo Michal Kwiatkowski am Vortag zu seiner rennentscheidenden Attacke ansetzt, bin ich nur noch ein Häufchen Elend, das mit zitternden Beinen gen Ziel in Siena eiert.
Um selbiges zu erreichen, muss man einen letzten Pfeil im Köcher behalten: Sienas Altstadt liegt auf einem Hügel, die schmale und 16 Prozent steile Via Santa Caterina verlangt den Fahrern noch einmal alles ab. Lohn der Mühen: der lautstarke Jubel der Zuschauer in den engen Gassen. Zwei technisch anspruchsvolle, enge Kurven, dann schießt man durchs Ziel auf der imposanten Piazza del Campo, wo alljährlich das berühmte Pferderennen Palio di Siena stattfindet und schon die Auftaktsequenz des James-Bond-Films „Ein Quantum Trost“ gedreht wurde.
Abklatschen mit anderen Teilnehmern, ungläubiges Kopfschütteln, dann bricht ein breites Grinsen die Schlamm-Maske auf dem Gesicht auf. Strade Bianche ist surreal. Schmerzhaft. Und unvergesslich.

Informationen Strade Bianche
Termin Strade Bianche: erstes März-Wochenende (Samstag Profirennen, Sonntag Gran Fondo)
Distanz Gran Fondo: 130km mit 30km Schotter, ca. 1500 Höhenmeter
Distanz Medio Fondo: 77km mit 20km Schotter, ca. 1000 Höhenmeter
Info: gfstradebianche.it
RoadBIKE-Tipp: Ein Frühjahrstrainingslager in Italien (z.B. Emilia Romagna oder Toskana) verbinden mit einem Besuch in Siena, um das Profirennen zu verfolgen und beim Gran Fondo Strade Bianche zu starten – und so ein frühes erstes Highlight der Radsport-Saison erleben.