29„-Tourenfullys mit 130 mm Federweg sind die Könige unter den MTBs, weil sie einfach alles können. Sie kombinieren effizientes Vorankommen mit Komfort und Fahrsicherheit selbst im alpinen Gelände. In der 4000-Euro-Klasse gibt es echte Traumbikes, darunter klassisch- sportliche Allrounder, aber auch sehr bergabverliebte Modelle, die mehr den Trailfan ansprechen.
Das Testfeld im Überblick
In welchem Terrain fühlen sich Tourenfullys wohl?

Tief unter uns funkelt der Gardasee. Altissimo und Monte Baldo bilden ein Panorama zum Niederknien. die Sonne blinzelt keck über den Lago hinweg – was gibt es Schöneres, als jetzt und hier auf einer
Mountainbiketour zu sein? Wie überhaupt die klassische MTB-Tour allen “wilden„ Trends zum Trotz immer noch die Kerndisziplin, die Keimzelle des Mountainbikens ist. Sei es als Feierabendrunde, während eines Wochenendausflugs ins Mittelgebirge oder als König aller Touren, als Alpencross.
Welches Bike sich für die kleine wie große Tour am besten eignet? Nomen est omen ist es das Tourenfully mit 120–130 mm Federweg. Genug Hub, um damit sicher und komfortabel auch anspruchsvolle Trails unter die Stollen zu nehmen. Aber auch nicht zu viel, sodass sich diese Fullys in der Ebene und bergauf sportlich und effizient fahren – besser als ein All-Mountain oder gar Enduro. Zumal die Tourenfullys fast alle mit großen 29“-Laufrädern daherkommen, die, einmal beschleunigt, schneller rollen als kleinere Räder, mehr Fahrstabilität und ein viel besseres Überrollverhalten bieten.

Um herauszufinden, wer das beste Tourenfully der Saison bietet, haben wir sieben Bikes zum vielleicht wichtigsten Test des Jahres geladen. Räder zu Preisen von 3700–4300 Euro und von angesagten Marken wie Canyon, Ghost, Scott oder Specialized – potenzielle Traumbikes! Denn in dieser Preisklasse darf der Kunde beste Qualität erwarten, wie perfekt agierende Fully-Fahrwerke, leichte Carbon-Rahmen, intelligente Detaillösungen sowie solide Parts, die dauerhaftes Tourenvergnügen garantieren.
Geometrie: Was macht einen Tourer aus?

Was bei Betrachtung der Geometrien auffällt: Die Ingenieure haben auch die Tourenfullykategorie an die Rufe nach mehr Trailspaß angepasst. Die Bikes sind durchgehend abfahrtslastiger aufgestellt als in den Vorjahren: Flachere Lenkwinkel garantieren noch mehr Laufruhe, lange Hauptrahmen Fahrsicherheit und Kontrolle, kurze Heckpartien hingegen Agilität. Ausgestattet werden die Tourer des Jahrgangs 2019 vorwiegend mit steifen Gabeln mit 34 mm Standrohrdurchmesser, bissigen Reifen und kräftigen Bremsen. So weit, so gut, aber mit dem Zugewinn an Potenz haben die Bikes auch an Pfunden zugelegt. 13,5 Kilo wiegen die Testbikes im Schnitt – kein Topwert, aber immerhin noch leicht genug für den Alpencross. Zumal die Streuung von 12,8 bis 14,2 Kilo reicht. Das heißt, es gibt sie natürlich noch, die leichten Tourer zum Kilometerfressen. Mit dem neuen Canyon Neuron CF dominiert so ein „klassischer“ Tourer auch den Test. Das Bike hängt die Konkurrenz nicht nur in Sachen Ausstattung ab, sondern fliegt auch im Uphill leichtfüßig davon. Wer beim Klettern oberhalb des Lagos den Canyon-Hinterreifen seines Kumpels halten will, findet nur im BMC Speedfox einen guten und im Scott Spark einen hervorragenden Sparringspartner. Letzteres sichert sich dank seiner ausgewogenen Fahreigenschaften auch den Preis-Leistungs-Tipp. Kurzum: BMC, Canyon und Scott sind die Meister höhenmeterreicher Touren, lassen auch die Herzen von Marathonisti hochschlagen – sind dafür (speziell das BMC) bergab nicht ganz so extrem fahrstabil wie die restlichen Bikes im Test.

Auch das Bergamont würde mit seinem geringem Gewicht und den flotten Laufrädern/Reifen gut zu diesen Sport-Tourern passen, es fühlt sich durch die betont laufruhige Geometrie und das leicht wippende Heck aber weniger spritzig an. Das Stumpjumper ST hingegen ist perfekt ausbalanciert. Es kombiniert Agilität und Laufruhe ideal und glänzt bergab mit sensiblem, bergauf mit antriebsneutralem Fahrwerk. Leider ist es mit 14,2 kg schwer. Zudem tritt es zäh an, weil das Mehrgewicht in der Laufrad-Reifen-Kombination steckt.
Trailtauglichkeit: Mehr All-Mountain als Tourenfully?
„Krass, wie satt das liegt.“ Unser Tester Daniel Schöll kesselt mit sichtlichem Vergnügen auf verblocktem Pfad gen Riva. Mit ihm das neue GT Sensor, das wie das Ghost kaum mehr den typischen Tou- renfahrer bedient. Beide Bikes sind schwer, fahren sich nicht ganz antriebsneutral. Dafür werfen sie sich mit ultimativer Lust in den Talschuss. Beim GT liegt das an der abfahrtslastigen Geometrie, beim Ghost an der Ausstattung, etwa mit feinfühligem, pflegeleichtem, aber schwerem Stahlfederdämpfer. Aggressiv gefahren sind beide Bikes richtige Spaßhämmer für verblockte Abfahrten, bergauf kosten sie aber Körner – und empfehlen sich so mehr für den All-Mountain-Biker oder den, der ein stabiles Trailbike für seine Hausrunde sucht.
Wir aber beenden unsere Gardaseetour mit den letzten Schwüngen nach Riva. Und wir sind uns einmal mehr sicher: Es geht einfach nichts über eine coole MTB-Tour. Schon gar nicht, wenn man einen modernen Traumtourer à la Canyon, Scott oder Specialized sein Eigen nennt.
Punktevergabe und Benotung vom Test

Jeder MOUNTAINBIKE-Radtest basiert auf einem komplexen Punkteschlüssel – aufgeteilt in zwölf Bereiche. Damit die Ergebnisse nachvollziehbar sind, veröffentlichen wird die Tabelle mit den Punkten in den einzelnen Kategorien bei jedem Biketest. Bewertet werden neben Labordaten vor allem die Fahreigenschaften. Handling, Fahrspaß, Vortriebseffizienz, Klettereigenschaften und Abfahrtsqualitäten tragen fast 60 Prozent zur Endnote bei. Diese Kategorien bewerten alle Testfahrer unabhängig voneinander nach jeder Runde, wobei die Einzelnoten nicht abgebildet werden. Ohne Zweifel steht damit der Praxistest im Fokus der Bewertung. Der Weg zum Testsieg führt buchstäblich über den Trail. Dabei ist die Gewichtung der Kategorien auf das jeweilige Testfeld angepasst. Nur so können wir die Räder innerhalb der unterschiedlichen Kategorien treffend bewerten und vergleichen. Ob Klettereigenschaften mit 20 oder 15 Punkten beitragen, hängt also von den getesteten Bikes ab, bei Enduros sind sie zum Beispiel weniger wichtig. Tourenfullys müssen echte Allrounder sein, weshalb keine der Praxiseigenschaften übermäßig hoch bewertet wird. Gut ein Drittel der Note errechnet sich aus Laborerhebungen (Gesamtgewicht, Rahmengewicht, Rahmensteifigkeit, Ausstattung und Verarbeitung und Sonstiges). Da wir streng bewerten, ist es für die Hersteller schwer, eine „überragende“ Bewertung einzufahren. Das bedeutet aber, dass eine „gutes“ Bike seiner Note gerecht wird. Außerdem ist der Unterschied zwischen einem „sehr guten“ Bike mit 220 Punkten und einem mit 200 Punkten deutlich bemerkbar. Werte am unteren Rand einer Note deuten darauf hin, dass das Bike weniger ausgewogen ist. Bei maximal 250 Punkten erhält das Bike mit den meisten Zählern den Testsieg. Zusätzlich vergeben wir in der Regel einen Tipp für ein Rad mit außergewöhnlichem Preis-Leistungs-Verhältnis.
So testen wir die Tourer

Auswahl: Zuerst wird die Kategorie fest gelegt, dann beginnt die Modellrecherche, auf deren Basis wir eine Preisklasse er arbeiten. Beim aktuellen Test haben wir uns für Tourenfullys im Preisfeld um 4000 Euro entschieden – für Versender wegen der wegfallenden Händlermarge 3500 Euro. Unsere Anfrage abgesagt ha ben Cannondale, Norco, NS, Orbea, BH. Allesamt mit der gleichen Begründung, dass die jeweiligen Modelle nicht mehr rechtzeitig zur Deadline geliefert werden könnten. Beim neuen Giant Trance 29 haben wir uns nach Rücksprache mit dem Hersteller entschlossen, es schon den All-Mountains zuzuordnen.
Praxistest: Zum Testteam gehören neben dem Testleiter drei erfahrene Tester. Jeder von ihnen ist mit jedem Bike mindestens einmal über eine acht Kilometer lange Teststrecke im Remstal gefahren. Die Doppelschleife ist gespickt mit verblockten Trails, technischen Kurvenpassagen, langen Schotteranstiegen und knackigen Rampen. Nach jeder Runde notieren wir Noten und Eindrücke in acht Bereichen – etwa in Sachen Vortrieb, Downhill oder Handling. Abschließend haben wir die Bikes auch noch während des Fotoshootings im alpinen Gelände am Gardasee gecheckt.
Labortest: In unserer Werkstatt wiegen unsere Techniker alle Bikes und zerlegen sie in ihre Einzelteile, um Rahmen und Laufradgewichte zu ermitteln. Gewichte und Geometrie-Daten sind keine Herstellerangaben, sondern von uns ermittelt. Die Parts werden notiert und mit den Herstellerangaben verglichen. Anschließend vermisst das Werkstattteam auf Prüfständen des EFBE Instituts die Steifigkeiten.
Das ideale Tourenfully und wichtige Fachbegriffe auf einen Blick

1) Rahmen und Fahrwerk: In diesem Testfeld um 4000 Euro sind die Hauptrahmen aller Bikes aus Carbon, die Hinterbaustreben aber in der Regel „nur“ aus Aluminium. Der Federweg ist bei den meisten Bikes auf 130 mm vorne und hinten angewachsen.
2) Radstand: Ein langer Radstand macht das Bike laufruhiger/träger, ein kurzer wendiger/nervöser. Generell sind die Bikes in den letzten Jahren länger geworden und pendeln sich bei Rahmengröße L knapp unter 1200 mm ein. Das neue GT Sensor ist selbst in Größe M mit 1196 mm sehr lang.
3) Kettenstreben: Kurze Streben verleihen dem Bike viel Drehfreude. Moderne Tourenfullys haben Ketten streben um 440 mm Länge. Sind die Kettenstreben zu kurz, steigt das Vorderrad im steilen Uphill aber schneller.
4) Sitzwinkel: Damit der Biker optimal von oben ins Pedal treten kann, ist der Sitzwinkel entscheidend. Für Tourenbikes optimal sind Werte zwischen 74° und 75,5°, weil der Fahrer dann aus balanciert über dem Tretlager sitzt. Die 73,5° am BMC sind fast zu flach.
5) Lenkwinkel: Flache Lenkwinkel verbessern die Laufruhe, machen Bikes bei langsamerer Fahrt aber kippelig und schwerer zu steuern. Da Tourenbikes Laufruhe und Agilität gut miteinander kombinieren müssen, sind Lenkwinkel zwischen 67° und 68° ideal. GT geht mit seiner 65,5° flachen Front einen Schritt ins Extrem, was dem Bike bergab natürlich enorm viel Fahrsicherheit gibt.
6) Oberrohr: Je länger das Oberrohr (und der Vorbau), desto sportlich gestreckter sitzt der Fahrer. Je kürzer, desto kompakter fällt die Position aus.
7) Reach: Die Reichweite im Stehen (Abstand Tretlagermitte–Steuerrohr oben) wird als Reach bezeichnet. Ein langer Reach „stellt“ den Fahrer sicher ins Bike, macht das Rad tempofest. Wird er zu lang, reagiert das Bike aber träger.
8) Cockpit: Die Vorbaulänge hängt vom Lenkwinkel ab. Zu einer flachen Front passt besser ein kurzer Vorbau, zu einer steilen ein etwas längerer. Breite Lenker verbessern die Kontrolle über das Bike.
9) Laufrad/Reifen: Da Tourenfullys Alleskönner sind, müssen auch die Reifen viele Ansprüche erfüllen. Gefragt sind Allround Pneus mit guten Rolleigenschaften, die im Gelände aber dennoch viel Grip und Traktion bieten sollten – z. B. Schwalbe Nobby Nic oder Maxxis Forekaster. Specialized und Ghost ziehen Reifen aus dem Enduro segment auf, die deutlich träger rollen.
10) Bremsen: Je größer die Scheibe, des to standfester und besser dosierbar sind die Bremsen. 180 mm vorne und hinten sind das Minimum für Trail-Abenteuer.
So liest du den Biketest:

Das Spinnennetz zeigt, wo die Stärken und Schwächen des Bikes in Relation zum Testumfeld liegen. Je größer der Ausschlag in eine der acht Richtungen, desto prägender der Charakterzug. Ein Allrounder weist rund- um eine große Fläche, ein Spezialist eine verschobene Grafik auf. Die jeweiligen Eigenschaften wie Up- oder Downhill sind meist gegensätzlich angeordnet. So siehst du auf einen Blick, welches Profil das Bike aufweist. Die Grafik unten zeigt ein eher abfahrtslastiges Bike mit potentem Fahrwerk – keinen wuseligen Sprinter. Und das versteckt sich hinter den Begriffen:
Uphill/Vortrieb: Passt die Traktion? Steigt die Front? Ist die Sitzposition im steilen Anstieg optimal? Ein niedriges Gewicht steigert den Ausschlag im Profil ebenso wie die Rollfreudigkeit von Laufrädern/Reifen.
Downhill: Ein sicheres Handling ist das A und O, damit ein Bike bergab performt. Dazu fließen die Federung sowie einige Parts wie das Cockpit, die Reifen oder die Bremsen in das Downhill-Profil ein.
Ausstattung: ... umfasst sämtliche Parts wie Schaltung, Antrieb, Federelemente, Laufräder, Reifen oder Anbauteile à la Sattel, Griffe, Cockpit. Aber wir bewerten auch gelungene und innovative Detaillösungen.
Rahmen/Fahrwerk: Ein top gemachter Rahmen mit geringem Gewicht, hohen Steifigkeiten und perfektem Fahrwerk bildet die Basis für das perfekte Bike.
Laufruhe: Hohe Spurtreue bringt Sicherheit bergab, kann unter Umständen aber ins Träge kippen, speziell wenn der Profiler einen geringen Ausschlag zeigt in Sachen Wendigkeit.
Wendigkeit: Je wendiger ein Bike, desto agiler, spielerischer lässt es sich bewegen. Ein Ausschlag nur in diese Richtung (ohne hohen Ausschlag bei Laufruhe) lässt jedoch auf Nervosität schließen.
Robustheit: Liegt der Fokus bei Rahmen und Parts weniger auf Leichtbau, sondern auf Solidität, steigt der Ausschlag der Grafik. Der Gegenpart ist Leichtbau.
Geringes Gewicht: Niedriges Rahmen-, Parts- und Gesamtgewicht lassen auf ein spritziges, leichtfüßiges, in der Ebene wie im Uphill ausgezeichnetes Bike schließen.